Besuch in
Sandringham
338 BEIM PRINZEN VON WALES
meiner Überzeugung ist Lord Salisbury trotz mancher Vorwürfe, die ihm in
der eigenen Partei gemacht worden sind, noch keineswegs als ein politisch
fertiger Mann zu betrachten, den die Konservativen ohne weiteres würden
fallen lassen, solange er nicht selbst den Wunsch zeigt, sich zurückzuziehen.
Überdies kann aber Mr. Chamberlain auch darüber nicht im Zweifel sein,
daß es selbst bei einem Rücktritt des jetzigen Premierministers noch recht
zweifelhaft sein würde, ob er sich mit Sicherheit als Nachfolger desselben
betrachten könnte. Wenn ich mir dies alles vergegenwärtige, bin ich durch-
aus nicht abgeneigt anzunehmen, daß Mr. Chamberlain, als er seine Rede
über die Allianz hielt, die prinzipielle Zustimmung Lord Salisburys dazu
bereits in der Tasche hatte oder aber von der Überzeugung ausging, daß es
ibm — wie in der Samoa-Frage — mit Hilfe der Majorität seiner Kollegen
gelingen würde, den Premierminister zum Eingehen auf seine Wünsche zu
bestimmen. Für uns kann cs, soweit ich mir ein Urteil gestatten darf, nur
nützlich sein, wenn Mr. Chamberlain, ohne daß wir unsererseits
irgendeine Verpflichtung übernehmen, an der Hoffnung festhält,
daß wir uns schließlich noch bestimmen lassen werden, auf seine Wünsche
bezüglich einer Allianz oder doch einer intimen Verständigung einzugehen.
Solange er an dieser Hoflnung festhält, wird er uns in den voraussichtlich
noch auftauchenden kolonialen Fragen Entgegenkommen zeigen und wie
in der Samoa-Frage seinen Einfluß im Kabinett und speziell auf Lord
Salisbury für uns geltend machen müssen. Graf Hatzfeldt.‘“
Die Kaiserin war, wie schon ihre Briefe an mich gezeigt haben, sehr un-
gern nach England gegangen. Sie hatte England nie geliebt und liebte es
auch jetzt nicht. Aber bei ihrem ausgesprochenen Pflichtgefühl unterzog
sie sich den zum Teil recht ermüdenden Anforderungen eines solchen
fürstlichen Besuchs mit großer Liebenswürdigkeit und ohne je irgendwelche
üble Laune zu zeigen.
Von Windsor begaben wir uns nach Sandringham, dem Landsitz des
Prinzen von Wales, der Wert darauf gelegt hatte, daß sein Neffe ihm
dort einen Besuch abstattete. Sandringham ist eines der reizendsten
Landgüter, die ich kenne. Selbst in England, das par excellence das
Land der schönen Edelhöfe ist, von den prächtigsten Schlössern der
Welt bis zu den reizenden Villen und behaglichen Cottages, würde man
schwerlich ein Haus finden, das den raffıniertesten Luxus mit so viel Kom-
fort verbindet. Der herrliche Park mit seinen prächtigen Eichen und
Buchen, seinem unvergleichlich schönen Rasen, den Rhododendron-
büschen, den sauberen Kieswegen und lebendigen Hecken machte jeden
Spaziergang zu einem Genuß. Johanna Schopenhauer, die launische und
vielschreibende Mutter des großen Philosophen, macht in irgendeinem ihrer
Bücher die treffende Bemerkung, daß die englischen Gärtner wahre Land-