Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Wilhelm II. 
über Bismarck 
352 DER HASS GEGEN DEN TOTEN BISMARCK 
daß mich diese lange Rede Seiner Majestät total elend gemacht hat. In 
seinem äußeren Wesen hat sich der Kaiser während der elf Jahre seiner 
Regierung sehr beruhigt. Wir, die wir nun zum elften Male die Nordlands- 
reise machen, haben von dieser Änderung einen zu frappanten Eindruck, 
geistig aber hat sich nicht die geringste Wandlung vollzogen. Er ist unver- 
ändert in seiner explosiven Art, sogar härter und plötzlicher in einem Selbst- 
gefühl gereifter Erfahrung — das keine Erfahrung ist. Seine Individualität 
ist stärker als die Wirkung der Erfahrung. Das könnte eine Umschreibung 
für etwas anderes sein — doch ist es nicht etwas anderes. Er gehört nicht 
in unser Zeitalter, wie es zu allen Zeiten Naturen gegeben hat, die aus dem 
Rahmen ihrer Epoche heraustraten. Echte Genialität modelt die Zeit 
nach sich, schwächere Geister wurden zerrieben. An der Spitze eines Staats- 
wesens müssen so stark eigenartige Naturen Konvulsionen erzeugen — und 
wir steuern der Zeit entgegen, wo eine Entscheidung kommen wird, ob die 
Epoche oder der Kaiser stärker sein wird. Ich fürchte, daß er unterliegt, 
denn seine Kraft ruht momentan schon mehr in der Geschicklichkeit seiner 
Ratgeber, speziell in der Deinen. Wenn er es einsieht, daß er durch Dich 
groß werden kann — könnte ihm die Palme malgre lui zuteil werden!“ 
So Philipp Eulenburg. 
Eine große Rolle spielten bei den Gesprächen auf der „Hohenzollern“ 
die nach dem Tode des Fürsten Bismarck erschienenen „Gedanken und 
Erinnerungen“, die den Kaiser in hohem Grade gereizt und verstimmt 
hatten, obwohl der dritte Band damals noch nicht publiziert worden war. 
Eulenburg schrieb mir hierüber: „Der Kaiser sagte, daß er über die eigent- 
lichen Gründe der Entlassung des Fürsten Bismarck während seiner Lebens- 
zeit nichts sagen wolle. Er motivierte dies mit den Worten: ‚Ich kann und 
will dem deutschen Volk nicht seine Ideale rauben.‘ Aber wenn seine 
Regierungszeit gewissermaßen Geschichte geworden sei, bei seinem Tode, 
solle das deutsche Volk erfahren, weshalb er sich von Bismarck getrennt 
habe. Der Kaiser von Österreich und die Königin von England besäßen 
jetzt schon in ihren Privatarchiven die motivierende Aufzeichnung, die er 
beiden Souveränen quasi zu seiner Rechtfertigung geschrieben habe. Das 
‚Testament an das deutsche Volk‘, welches die Richtigstellung der 
Entlassung enthalte und gleich nach seinem Tode publiziert 
werden solle, habe er an Scholl diktiert; es läge in seinem privaten eiser- 
nen Schränkchen. Ich ließ in Gedanken die Wirkung, die dieses Testament 
haben wird, in meinem Geiste vorüberziehn, aber ich mochte dem guten 
Kaiser nicht die Illusion rauben, in der er sich wiegte. Das Volk wird auch 
nach der Publikation des Testaments auf die Seite seines Heros treten. 
Nicht für Kaiser Wilhelm II., sondern für Bismarck werden die Bergfeuer 
flammen, nicht am 27. Januar, sondern am 1. April. Es macht mich
	        
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