360 DAS SCHÖNSTE WEGGESTRICHEN
wurden die Zeitungen gebracht. Der Kaiser griff nach ihnen und war sehr
verwundert, seine Rede nur in der ihr von mir gegebenen Fassung, d.h.unter
Weglassung der bedenklichen Wendungen, zu finden. ‚Sie haben ja gerade
das Schönste weggestrichen“, meinte er zu mir, der ich ihm gegenübersaß,
weniger erzürnt als enttäuscht und betrübt. Da wurde ein kleines, in Wil-
helmshaven erscheinendes Blatt gebracht, das die kaiserliche Rede in
extenso veröffentlicht hatte. Ein Mitarbeiter dieses Blättchens hatte, auf
einem Dache sitzend, die Rede nachstenographiert und sofort publiziert,
ohne daß Wiegand oder ich es hatten hindern können. Er hatte auch schon
die betreffende Nummer seines Blattes nach Bremen, Hamburg, Hannover,
Emden und Berlin in Tausenden von Exemplaren expediert, froh über das
gute Geschäft, das er machen würde. Der Kaiser war entzückt, als er nun
seine Rede in ihrem vollen Wortlaut las, aber weniger erfreut, als ich,
während er nachher seine Zigarre rauchte, ihn über seine Auslassungen
zur Rede stellte. Ich wies zunächst auf sein so oft freudig bekanntes
Christentum hin. Seine Auslassungen würden bei guten Christen Be-
dauern und Ärgernis hervorrufen. Der Kaiser replizierte mit gewohnter
Schlagfertigkeit, daß Moses, Josua und andere Helden der Bibel an ihre
Heerscharen noch viel schärfere Ansprachen gerichtet hätten. Ich konnte
erwidern, daß wir nicht im alten, sondern im neuen Bunde lebten, dessen
Geist ein anderer wäre als die Mentalität, mit der vor Jahrtausenden die
Israeliten Kanaan erobert hätten, ging dann aber auf die vorauszusehende
politische Wirkung der exzentrischen Rede ein. Sie würde bei unseren
Freunden in der Welt Trauer und Anstoß erregen, von unseren Feinden aber
benutzt werden, um Mißtrauen und Haß gegen uns zu säen. Diese Rede
würde verheerend wirken. Der Kaiser wurde sichtlich betreten. Er erwarte,
meinte er, von meiner „Freundschaft“ für ihn wie von meiner „famosen
Beredsamkeit‘, daß ich ihn im Reichstag „herauspauken‘“‘ würde. Ich wies
darauf hin, daß ich das Parlament weniger fürchte als die Meinung und die
Stimmung der Welt. Solche „Entgleisungen“, ich gebrauchte mehrmals
diesen Ausdruck, wären Wasser auf die Mühlen aller derjenigen, die das
Land von Goethe und Schiller, von Humboldt und Kant als ein Land von
Barbaren und Heiden, unseren Kaiser, der in seinem innersten Kern, wie
ich nach wie vor überzeugt wäre, ein guter Christ und guter Mensch sei,
der gar nichts Böses wolle, als einen eroberungslustigen und blutdürstigen
Eroberer hinstellten, was Seine Majestät, Gott sei Dank, in keiner Weise
wäre. Unsere Unterredung dauerte bis nach Mitternacht. Als der Kaiser mich
entließ, gab er mir die Hand mit den Worten: „Ich weiß, daß Sie nur mein
Bestes wollen, aber ich bin nun einmal, wie ich bin, und ich kann mich nicht
ändern.“ Ich verließ den Kaiser mit der Überzeugung, daß er mich nach
dieser Unterredung schwerlich zum Reichskanzler nehmen würde, ein