Fahrt nach
Homburg
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der Doktrin von der zwangsläufigen Entwicklung huldigt, gibt sich von
vornherein verloren. Wenn ich für Land und Volk nie einen anderen Stand-
punkt verstanden und vertreten habe, so war es anderseits meine Art, viel-
leicht mein Fehler, in mein persönliches Schicksal, je älter ich wurde, um so
weniger einzugreifen und dessen Gang einer höheren Gewalt, den ruhig wal-
tenden Göttern, um mit Homer zu sprechen, unserem Vater im Himmel,
wie der Christ glaubt, vertrauensvoll zu überlassen: Volentem ducunt,
nolentem trahunt.
Als ich bei meiner Abreise von Hubertusstock den Wagen bestieg,
der mich nach Neustadt-Eberswalde führte, und von dort mit der Eisenbahn
nach Berlin zurückkehrte, erschien mir meine persönliche Zukunft unge-
wisser als je. Es lag in der Unberechenbarkeit Kaiser Wilhelms II., daß ich
trotz nun vierjähriger Zusammenarbeit mit ihm bis zuletzt im unklaren
darüber war, ob ich Reichskanzler werden oder mit einem anderen Reichs-
kanzler als Staatssekretär bleiben oder wieder eine Botschaft übernehmen
oder vielleicht auch mich zur Ruhe setzen würde. Mit dem, seit ich als
Referendar am Bezirkspräsidium in Metz unter ihm gearbeitet hatte, von
mir hochverehrten Grafen Botho Eulenburg, mit meinem treuen Freunde
Karl Wedel als Reichskanzler wäre ich Staatssekretär des Äußeren ge-
blieben. Auch mit Miquel und Posadowsky, wenn sie mir freie Hand hin-
sichtlich der Behandlung der auswärtigen Fragen zugesichert hätten. Ich
würde mich aber auch ohne Kummer und ohne Bitterkeit in das Privat-
leben zurückgezogen haben, überzeugt, daß ich mit meiner geliebten Frau
und mit guten Büchern überall innerlich glücklich würde leben können.
Fast gleichzeitig mit der telephonischen Aufforderung Seiner Majestät,
mich von Berlin nach Homburg zu begeben, erhielt ich das nachstehende
Telegramm des Chefs des Zivilkabinetts: „Seine Majestät der Kaiser haben
mir soeben telephonisch befohlen, in Gemeinschaft mit Eurer Exzellenz
mich morgen vormittag zum Zweck einer Besprechung bei Allerhöchstdem-
selben zu melden. Ich bin in Potsdam auf einen Tag zu einem Familienfest
und fahre heute abend mit dem um zehn Uhr am Potsdamer Bahnhof ab-
gehenden Zuge nach Homburg. Eure Exzellenz bitte ich um geneigte
Nachricht, ob Sie denselben Zug benutzen werden.“ Am Abend des 16. Ok-
tober 1900 traten wir gemeinsam die Fahrt von Berlin nach Homburg an.
Lucanus war ein angenehmer Reisegefährte, gescheit, sogar schlau,
aber immer behaglich. Als wir in einem Coupe nebeneinander Platz genom-
men hatten, das wir durch einen glücklichen Zufall, unterstützt durch ein
kleines Douceur an einen biederen Schaffner, leer fanden — Minister und
andere große Tiere fuhren, mit einziger Ausnahme des Reichskanzlers,
damals noch nicht im Salonwagen wie später die Reigenführer der Re-
publik — drückte mir Lucanus nicht ohne innere Bewegung die Hand. Er