16 BEDENKZEIT
Es lägen Beweise dafür vor, daß Marschall die Rechte der Krone mit Hilfe
der Reichsfeinde hätte verkürzen und ein parlamentarisches System
etablieren wollen. Das verdiene Strafe, Marschall müsse fort von seinem
Platz. Ich konnte mich nicht enthalten, meinem Erstaunen über diese
traurige Enthüllung Ausdruck zu geben. Ob Marschall wirklich so teuf-
lische Pläne verfolgt habe? Der Kaiser schlug mit seiner starken rechten
Hand auf dielinke Brustseite. „Hierhabeich die Beweise“, sagte er mit
großer Bestimmtheit. Ich deutete an, daß es für mich von Interesse sein
würde, diese Beweise kennenzulernen, schon damit ich mich vor ähnlichen
Fallstricken hüten könne. Der Kaiser schlug einen Haken, wie man es in
der Jägersprache nennt. „Die Beweise zeige ich Ihnen später einmal“,
meinte er, „jetzt will ich Ihnen vor allem sagen, daß Sie mich Anfang
August nach Petersburg begleiten müssen. Sie sind dort als Botschaftsrat
tätig gewesen und können sich mir da besonders nützlich machen. Die Eng-
länder benehmen sich so schändlich gegen mich, daß wir die Beziehungen
zu Rußland nur um so eifriger pflegen müssen.‘ Ich entgegnete, daß ich
Seiner. Majestät für die Fahrt nach Petersburg zur Verfügung stünde, bis
dahin bäte ich um Urlaub. „Nanu!“ sagte der Kaiser, „ich meinte, von
jetzt ab sollten wir uns gar nicht mehr trennen.“ Ich erwiderte, daß ich
eine endgültige Antwort, ob ich den mir angetragenen Posten mit gutem
Gewissen annehmen könne oder nicht, unmöglich erteilen könne, bevor ich
mich über unsere internationale Situation an der Hand der Akten des Aus-
wärtigen Amtes gründlich informiert hätte. Auch müßte ich mich innerlich
erst sammeln, bevor ich die letzte Entscheidung treffe. Nicht aus irgend-
welcher Ängstlichkeit, sondern aus dem Gefühl meiner Verantwortlichkeit
gegenüber Land und Krone. Ich bäte deshalb, mich bis Ende Juli zu be-
urlauben, ich würde inzwischen meinen gewohnten Sommeraufenthalt,
den Semmering, aufsuchen. Die dortige Stille sei am besten geeignet, mich
an der Hand der Akten und mit ruhigem Nachdenken zu klaren Ent-
schlüssen kommen zu lassen. Soviel wisse ich schon aus meiner Botschafter-
tätigkeit und schließlich auch aus der Geschichte und den Zeitungen, daß
das Problem, vor das ich gestellt werden würde, im wesentlichen darauf
hinauskomme, zu unserem Schutz und für unsere Sicherheit eine Flotte zu
bauen, ohne durch den Bau dieser Flotte in Krieg mit England zu geraten.
Das sei nicht ganz einfach. Wir dürften nicht „propter vitam vivendi
perdere causas“,
Den Kaiser amüsierte mein Zitat. Ich scheine ja ein großer Lateiner zu
sein, das sei weniger sein Fall. Trotz aller Mühe, die sich Hinzpeter in
dieser Richtung gegeben hätte, habe das Latein keine besonderen Reize für
ihn. Ich erzählte nun, daß ich nicht wüßte, von welchem lateinischen Schrift-
steller die in Rede stehende Wahrheit geprägt worden wäre. Ich entsinne