Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

BRIEF DES GENERALS LOE 391 
Telegraph die längst erwartete Nachricht Ihrer Ernennung zum Reichs- 
kanzler brachte, sind meine Gedanken unausgesetzt mit Ihnen beschäftigt 
gewesen. Wohl drängte es mich, meiner Empfindung telegraphisch oder 
brieflich Ausdruck zu geben. Ich unterließ es, weil es mir widerstrebte, 
Ihnen einen banalen Glückwunsch, deren Sie gewiß viele Hunderte emp- 
fangen, zu senden, weil ich ferner ahnte, wie sehr jede Minute Ihrer kost- 
baren Zeit in den ersten Tagen beansprucht sein mußte, und weil meine 
Empfindung bei allem, was Sie in Ihrem öffentlichen und Familienleben 
trifft und betrifft, anders beschaffen ist als die aller übrigen Menschen, 
selbst die Ihnen am nächsten stehen, Ihre Frau ausgenommen. Mag das wie 
ein überhebendes Wort klingen — ich habe ein Recht, Ihnen gegenüber so 
zu empfinden und zu sprechen. In Ihrer Person vereinigen sich für mich die 
beiden lebhaftesten Gefühle, deren ich heute in meinem Alter noch fähig 
bin: die Liebe zu dem Königshause und dem Lande, für die ich während 
meines geringen Lebens gearbeitet, demnächst die warme Zuneigung, 
welche ich, seitdem Sie als junger Soldat mir anvertraut wurden, zu Ihnen 
gefaßt und durch alle Phasen Ihres bisher so glücklichen Lebens bewahrt 
habe. Ich liebe in Ihnen den Sohn Ihres Vaters, der mir ein unvergeßlicher 
Gönner gewesen, den Offizier des Regiments, das in meiner militärischen 
Erinnerung den ersten Platz behauptet, den Mann Ihrer Gattin, der Sie 
das verdiente Lebensglück bereitet haben, und den hochbegabten, ideal 
begeisterten, tatkräftigen, aber maßvollen und besonnenen Staatsmann, 
der in meiner Auffassung die glückliche Zukunft unseres Vaterlandes 
repräsentiert. Sie wissen, ich mache keine Phrasen — wozu sollte ich das 
auch am Ende einer Laufbahn, an deren Erfolg die Phrase wahrhaftig 
keinen Anteil hat? Ich spreche zu Ihnen aufrichtig und wahr, und ich weiß, 
daß Sie Verständnis für meine Sprache haben. Sie verstehen auch, warum 
ich Ihnen bis heute weder telegraphiert noch geschrieben habe. Der Grund- 
ton, welchen die Nachricht bei mir hervorrief, entsprang der oben geschil- 
derten Doppelempfindung; lebhafte Freude, gemischt mit lebhafter Be- 
sorgnis, ob der Zeitpunkt des größten äußeren Erfolges, derhöchsten Würde, 
die ja, wie ich Ihnen oft prophezeit, zum Heile des Vaterlandes für Sie unver- 
meidlich war, nicht zu früh eingetreten sei. Aber in gewissen entscheidenden 
Momenten darf der entschlossene Mann nicht rückblicken. Ich habe mir 
seit Ihrer Ernennung alle Verhältnisse, alle Chancen reiflich überlegt. 
Dieser entscheidende Moment war für Deutschland und für Sie gekommen. 
Es gab keine andere Wabl als anzunehmen. Ihr Vorgänger war nicht mehr 
möglich und ebensowenig ein Paravent-Nachfolger. Sie mußten eintreten, 
und der Moment ist, wenn auch schwierig, doch für Sie ein günstiger, denn 
die Lösung Ihrer augenblicklichen Hauptaufgabe liegt auf dem Gebiete, 
auf welchem Sie Meister sind und unbedingt die Partie gewinnen, glänzend
	        
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