XXV. KAPITEL
Einzug des Grafen Waldersee in Peking » Die auswärtige Lage - Deutsch-Englischer
Chinavertrag + Österreich-Ungarn « Philipp Eulenburg über den österreichisch-unga-
rischen Thronfolger, Verhältnis KaiserWilhelms zu Erzherzog Franz Ferdinand » Unsere
Beziehungen zu Frankreich - Hecresforderungen » Adelsregimenter - Rußland: Brief
des Generals von Werder über russische Verhältnisse, General von Schweinitz über
Rußland « Graf Lambsdorff, russischer Minister des Äußern
nter dem Fürsten Hohenlohe hatte ich die auswärtigen Geschäfte
U ziemlich selbständig gelührt. Es war aber verständlich, daß mir nach
meiner Ernennung zum Reichskanzler meine persönliche Verantwortung
für den Gang unserer auswärtigen Politik noch deutlicher zum Bewußtsein
kam und daß ich noch stärker die Pflicht empfand, alle Kräfte anzuspannen,
um die Zukunft des deutschen Volkes zu sichern und ihm durch Vorsicht,
Umsicht und, soweit menschliches Vermögen reicht, Einsicht den Frieden
mit Ehre und mit Würde zu erhalten. Bismarck hat mehr als einmal ge-
äußert, daß der Mensch, da die wirklichen Propheten und Prophetensöhne
ausgestorben wären, den Gang der Ereignisse nur für etwa vier bis fünf
Jahre voraussehen könne. Er hatte in einem berühmten Erlaß an Harry
Arnim es sogar als einen gewöhnlichen Fehler gerade deutscher Politiker
bezeichnet, sich von zu langer Hand auf die Ereignisse vorzubereiten.
Ich habe ihn auch sagen hören, in der Politik wäre Weitsichtigkeit gefähr-
licher und ein größerer Fehler als Kurzsichtigkeit. Worauf es ankomme, sei,
Menschen und Dinge realpolitisch zu nehmen. Der geniale Ferdinand Las-
salle hat das Wort geprägt: „Sehen, was ist!“ Alle wirklichen Staatsmänner,
Cavour und Disraeli, Thiers und Franz Deäk, waren mit Bismarck darin
einig, daß es politisch darauf ankomme, zu sehen, was ist. Diese Pflicht lag
mir doppelt ob, wo der Monarch, dem ich diente, im Gegensatz zu seinem
nüchternen Großvater, mehr Phantasie als „‚bon sens“ besaß und daher Ge-
fahr lief, Personen und Ereignisse entweder zu überschätzen oder zu unter-
schätzen und zwischen sanguinischem Optimismus und pessimistischer
Verzagtheit hin und her zu schwanken.
Nachdem sich der Schwarm der ersten Gratulanten und Besucher ver-
laufen und ich in der Frage des Zolltarifs mit meinen Kollegen und den
Führern des Zentrums, der Nationalliberalen und der Konservativen die