DEUTSCHLAND, RUSSLAND, FRANKREICH 403
Frieden gewesen waren. Die Franzosen wollten nicht den Krieg oder, rich-
tiger gesagt, sie trauten sich nicht, uns anzugreifen. Aber sie hatten nicht
auf die Reichslande verzichtet, viele Franzosen auch nicht auf die Hoff-
nung, wieder einmal die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent zu
erringen, die Frankreich unter Louis XIV. und Napoleon besessen hatte.
Unser Botschafter in St. Petersburg, Fürst Radolin, schrieb mir, daß, als
er rein akademisch bei dem zweifellos friedlich und eher deutschfreundlich
gesinnten Grafen Murawiew die Frage eines Zusammengehens zwischen
Rußland, Deutschland und Frankreich angeregt hätte, das natürlich nur
möglich sei, wenn jede der drei Mächte sicher wäre, daß keine der beiden
anderen ihren Besitzstand antasten wolle, ihm der russische Minister des
Äußeren erwidert habe: für Rußland könne er gern eine solche Verpflich-
tung eingehen, für Frankreich aber nicht. Kein französisches Ministerium
würde 24 Stunden im Amt bleiben, wenn es deutschen Wünschen bezüglich
einer Garantie des Besitzstandes der Vertragschließenden entgegenkäme.
An der Überzeugung, daß Frankreich sich gegen uns wenden würde, sobald
wir mit Rußland aneinanderkämen, habe ich bis zuletzt festgehalten und
darin nur zu recht behalten. Gegenüber Frankreich bewegten sich sowohl
der Deutsche Kaiser wie das deutsche Volk besonders gern in Illusionen.
Wilhelm II. glaubte, ebenso wie früher seine Frau Mutter, durch persönliche
Liebenswürdigkeit die Franzosen trösten und gewinnen zu können, was eine
Verkennung sowohl der leidenschaftlichen Vaterlandsliebe wie des natio-
nalen Ehrgeizes und des nationalen Hochmuts unserer westlichen Nachbarn
war. Mit der naiven Gutmütigkeit, die vom Standpunkt der Ethik eine
Tugend, politisch gesprochen eine Schwäche unseres Volkes ist, stand die
große Mehrheit der Deutschen den Franzosen mit dem aufrichtigen Wunsch
gegenüber, sich mit dem interessanten Nachbarn jenseits der Vogesen bald-
inöglichst und restlos auszusöhnen. Das hatte unter anderem die Folge,
daß die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 gerade von Deutschen
scharenweise besucht wurde. Der Eindruck, den diese Besucher in Paris
machten, war nicht immer günstig. Mir lebte an der Seine eine langjährige
und gute Freundin, Anna Lindau, wie sie während ihrer ersten Ehe hieß.
Sie war eine Tochter des Begründers des „Kladderadatsch‘“, David Kalisch,
und in erster Ehe vermählt mit Paul Lindau, der, wenn auch nicht als be-
sonders tiefer, so doch als ein unterhaltender und glänzender Vertreter der
Berliner Publizistik der siebziger und achtziger Jahre bezeichnet werden
konnte. Sie hatte ihren Gatten verlassen, um einen französischen Journa-
listen, der im Pariser „Figaro‘“ unter dem Namen Jacques Saint-Cere
schrieb, in Wirklichkeit aber aus Fürth in Bayern stammte und Rosenthal
hieß, nach Paris zu folgen. Der Traum ihres Lebens war seitdem die Ver-
söhnung zwischen Deutschen und Franzosen, denn sie hatteihre alte Heimat
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