Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Die 
Flotten- 
novelle 
414 KRIEG MIT ENGLAND? 
und Deutschland auch die Schiffsbauten nichts verdürben und daß überall 
Windstille herrsche. Das Furchtbare am deutschen Schicksal ist, daß wir 
die eigentliche Gefahrzone schon überwunden hatten, daß sogar dem 
listenreichen König Eduard die Karten, die er so geschickt zu mischen 
wußte, der Tod aus der Hand genommen hatte, als eine kaum je dagewesene 
Verbindung politischer Kurzsichtigkeit, Unbesonnenheit und Ungeschick- 
lichkeit uns durch Bethmann und Jagow doch in den Krieg hineingleiten 
ließ. 
Ich hatte mich im Frühling des Jahres 1900, in dessen Herbst ich Reichs- 
kanzler werden sollte, in der Budgetkommission des Reichstags eingehend 
und wiederholt über Zweck und Ziele unseres Flottenbaus ausgesprochen. 
Tirpitz hatte mich mündlich und schriftlich gebeten, die politische Begrün- 
dung der damals eingebrachten Flottennovelle in der Kommission allein zu 
übernehmen. Der Reichskanzler Hohenlohe war bei seinem hohen Alter und 
mit Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit den langen und ermüden- 
den Kommissionssitzungen nicht mehr gewachsen. Tirpitz selbst konnte 
vorher ausgearbeitete Reden, wenn auch mit leiser Stimme, so doch bis- 
weilen mit guter Wirkung, im Plenum vortragen, besaß aber für die Debatte 
in der Kommission nicht die wünschenswerte Schlagfertigkeit. In der Kom- 
missionssitzung vom 27. März 1900 hatte ich in einer programmatischen 
Ausführung den Gedanken an die Spitze gestellt: der Zweck der Novelle 
sei vor allem, uns den Frieden auch gegenüber England zu sichern. Ein 
Zusammenstoß mit England würde, wie die Dinge heute lägen, für uns des- 
halb so gefährlich sein, weil uns England bei unserer gegenwärtigen Inferio- 
rität zur See schweren Schaden zufügen könne, ohne jedes Risiko für sich 
selbst, während wir andererseits, solange wir zur See so schwach wären wie 
jetzt, gerade gegen England im Konfliktsfall kaum Bundesgenossen finden 
würden. Und wenn selbst Rußland in einem Konflikt mit England auf 
unserer Seite stünde, so würde doch bei unserer größeren Angreifbarkeit 
zur See die Hauptlast des Krieges auf uns fallen, und die Hauptverluste im 
Kriege würden uns treffen. Ein unglücklicher Krieg mit England könne uns 
durch die Vernichtung unserer groß und immer größer gewordenen über- 
seeischen Interessen, durch die Zerstörung unseres Handels, die Schädi- 
gung unserer Exportindustrie in unserer wirtschaftlichen und politischen 
Entwicklung um Generationen zurückwerfen. Wir könnten nur dann sicher 
sein, mit England dauernd in Frieden zu leben, wie wir dies aufrichtig 
wünschten, wenn ein englischer Angriff auf uns nicht mehr so gefahrlos 
erschiene wie heute. Heute lägen die Dinge so, daß wir gegen Angriffe von 
der Landseite wohl gerüstet wären, daß dagegen unsere Rüstung nach der 
Seeseite bei einem Angriff Englands die bedenklichsten Lücken aufweise. 
England sei die einzige Macht, die uns ohne erhebliches Risiko für sich
	        
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