Bericht
des Grafen
Metternich
422 SALISBURY AUFGERÜTTELT
Kabinett sei eher deutsch-freundlich, würde aber sofort in voller Einigkeit
gegen Deutschland Front machen, wenn es gälte, das Jangtse-Tal gegen
deutsche Annexionsneigung zu verteidigen.
Graf Paul Metternich, damals noch preußischer Gesandter in Ham-
burg, hatte in den ersten Wintermonaten 1900 einen längeren Aufenthalt in
England genommen, wo er viele persönliche Freunde besaß. Nach Deutsch-
land zurückgekehrt, überreichte er mir im Sommer 1900 eine Aufzeichnung
über seine englischen Eindrücke, in der er unter anderem ausführte:
„Als ich im Anfang Februar d. J. nach England kam, wurde ich von
manchen Seiten daraufaufmerksam gemacht, daßLord Salisburyeinalterund
gebrochener Mann sei, der nicht mehr lange im Vordergrunde der Geschäfte
stehen werde. Er ist, wenn ich mich recht erinnere, siebzig Jahre alt. Die
langwierige Krankheit seiner Frau, die er Anfang des vergangenen Winters
verloren hat und an der er sehr hing, war ihm besonders nahegegangen
und hatte ihn harassiert. Der südafrikanische Krieg, in den er ohne sein
Zutun hineingezogen worden ist, legte vor den Augen der Welt manche
Schäden bloß und verminderte, besonders im Anfang des Winters, das
Ansehen Englands in der Welt. Auch dies wird ihm nahegegangen sein.
Er ist im Herzen ein stolzer Patriot, und unter den lebenden Staatsmännern
verkörpert sich das Prestige Englands hauptsächlich in ihm. Aber, wie das
so geht im Leben, drohende Schicksalsschläge, die der Mensch herannahen
sieht, bedrücken ihn oft mehr als das Eintreten des gefürchteten Ereig-
nisses selbst, und durch den Tod seiner Frau war unter dem heilenden
Einfluß der Zeit, welcher bei alten Leuten noch schneller wirkt als bei
jüngeren, eine Last von ihm genommen, so daß sich Lord Salisbury wieder
freier dem öffentlichen Leben zuwenden konnte. Auch der Krieg nahm eine
andere Wendung, der tiefste politische Barometerstand war für England
vorüber; was die Unfähigkeit seiner Generale verschuldet hatte, schienen
die reichen Hilfsquellen des Landes und des Reichs an Geld und Menschen
wieder gutzumachen, und eine fröhlichere, frischere Stimmung bemäch-
tigte sich der Gemüter. Auch dies mag dazu beigetragen haben, Lord
Salisbury aus der Lethargie aufzurütteln, in die ihn Alter, Mißgeschick und
zunehmende Korpulenz zu versenken gedroht hatten. Ich fand ihn, als
ich ihn Mitte Februar zuerst wiedersah, wohler aussehend als vor vier
Jahren. Nur der Blick ist matter und sein Wesen noch unbestimmter,
ungreifbarer möchte ich sagen, als ehedem. Er ist von der äußersten Vor-
sicht des Ausdrucks geworden, und wenn er glaubt etwas zugestanden zu
haben, so sucht er es im nächsten Augenblick wieder abzuschwächen. Er
war als Cunctator immer bekannt. Das Alter, die Kriegslage, vielleicht
auch Mißtrauen gegen uns mögen diese Naturanlage verschärft haben,
obwohl ich weiß, daß er mir persönlich sehr wohlgesinnt ist. Nach dem Tode