Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

KEIN BESONDERES VERTRAUEN ZU DEUTSCHLAND 423 
seiner Frau hieß es, daß er abgehen wolle. Im Februar und März hielt er im 
Oberhause Reden, die so schwach waren, daß es von seinen Anhängern pein- 
lich empfunden wurde. Lord Rosebery zerzauste ihn mit solcher Schärfe, 
daß es als unfair empfunden wurde, den schwachen alten Mann mit solcher 
Härte zu behandeln. Später hielt Lord Salisbury wieder Reden großen 
Stils, und heute steht er wieder obenan. Seine Partei hat von jeher viel an 
ihm auszusetzen gehabt. Besonders daß er mit oft beißendem Hohn Per- 
sönlichkeiten und Richtungen in seiner Rede verletzte ohne Rücksicht auf 
die Wählerschaft. Er hat nie um die Gunst der öffentlichen Meinung ge- 
buhlt. Unter den lebenden englischen Staatsmännern gilt er für den größten. 
Niemand besitzt nach Ansicht seiner Landsleute eine solche Summe von 
Erfahrung in Behandlung der Staatsgeschäfte und besonders der aus- 
wärtigen Fragen. Vorsicht und Zurückhaltung werden ihm als Tugend an- 
gerechnet, wenngleich es Perioden gab, wo er, wie in der Open-door-Frage 
in China, von der öffentlichen Meinung zur Aktion gedrängt wurde und wo 
ihm Unschlüssigkeit vorgeworfen wurde. Das englische Volk stürzt sich 
nicht gern in unüberlegte Abenteuer, und wer es davon zurückhält, dem 
weiß es auf die Dauer Dank. Ich sehe nicht, weshalb Lord Salisbury die 
Zügel des Staatswagens aus der Hand geben sollte, und ohne zwingenden 
Grund treten wenige aus bedeutenden Stellungen zurück. Lord Salisbury 
soll gegen die baldige Vornahme von Neuwahlen sein. Chamberlain ist dafür. 
Salisbury wird sich sagen, daß er für zwei Jahre noch fest im Sattel sitzt, 
während Neuwahlen ein Element der Ungewißheit in sich bergen. Ich halte 
Lord Salisbury für einen zu bedeutenden Staatsmann, um zu glauben, 
daß er sich durch persönliche Sympathie leiten ließe. Ich glaube daher auch 
nicht, daß er für dieses oder jenes Land eine besondere Vorliebe oder Ab- 
neigung hätte. Ich halte ihn nicht für einen Feind Deutschlands, bin aber 
auch weit davon entfernt, anzunehmen, daß er uns besonderes Vertrauen 
entgegenbrächte. Aus früheren Perioden mag der Eindruck in ihm zurück- 
geblieben sein, daß wir uns im Kriegsfalle immer lieber mit unseren 
mächtigen territorialen Nachbarn verständigen würden als mit England, 
daß wir aber in der Zwischenzeit ganz gern koloniale oder andere Vorteile 
auf Grund einer Verständigung mit England einzuheimsen bereit seien. 
Wir werden nur dann mit Salisbury oder seinem Nachfolger eine 
leichte Politik haben, wenn sich zuerst in England das Bedürfnis einer 
Spezialverständigung mit uns fühlbar macht. Ebensowenig wie ein prinzi- 
pieller Gegner Deutschlands dürfte Lord Salisbury ein entschiedener Freund 
Frankreichs sein. Er wird sich aber ebensogut mit Frankreich wie mit uns 
über schwebende Tagesfragen verständigen, wenn es ihm in seine Politik 
paßt, d. h. wenn er glaubt, daß es im Interesse Englands liegt. Als ich kürz- 
lich von ihm Abschied nahm, warf er die Frage auf, in einer Weise, als ob
	        
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