428 DAS SCHIBBOLETH
erklärung die Menge andächtig und begeistert: „Nun danket alle Gott.“
Ich glaube nicht, daß das von der Northcliffe-Propaganda damals Wil-
helm II. in den Mund gelegte Wort von der „despicable little british army“*
authentisch ist. Aber auch Wilhelm II. unterschätzte, trotz seiner englischen
Gewohnheiten und Neigungen, wenigstens die militärischen und moralischen
Ressourcen Englands erheblich.
Auch solche Deutsche, die der in einer langen und erfolgreichen Ge-
schichte sattsam dokumentierten, unbegrenzten politischen Selbstsucht
der Engländer nicht so naiv gegenüberstanden wie die Mehrzahl ihrer
Landsleute, hatten von der Stärke des englischen Volks wie des englischen
Volkscharakters nur eine unvollkommene Vorstellung. Der alte Fehler des
Deutschen, große außenpolitische Fragen, die Vorgänge auf dem Welt-
theater, die Völker der Welt vom Standpunkt der beschränkten deutschen
Parteipolitik zu beurteilen, machte sich auch England gegenüber geltend.
Mit grimmigen Augen blickte der deutsche Demokrat und nun gar der
deutsche Sozialdemokrat auf das zaristische Rußland, in „zorniger Ent-
rüstung“ rötete sich seine Denkerstirn, wenn ihm gute oder gar intime
Beziehungen zu diesem „‚Barbarenland‘“ zugemutet wurden. Viele demo-
kratisch gerichtete Deutsche legten lange an alle Franzosen den Maßstab
der Affäre Dreyfus. Im Buch der Richter, Kapitel XII, Vers5 und 6, wird
uns erzählt, daß die Gileaditer jeden fliehenden Ephraiter, der sich durch
die Furt des Jordans retten wollte, nötigten, das Wörtchen „Schibboleth“
auszusprechen. Wenn er das nicht konnte, wie das bei allen Nicht-Gilea-
ditern der Fall war, und statt „Schibboleth‘“ erwiderte: „Sibboleth“, so
wurde er erschlagen, so daß zu der Zeit von Ephraim fielen 42000 Mann.
Was für die wackeren Gileaditer das Wörtchen „Schibboleth‘, war für
den freisinnigen Deutschen bei der Beurteilung französischer Zustände
während Jahrzehnten die Stellung des einzelnen Franzosen zu der Dreyfus-
Affäre. Jeder Franzose, der für Dreyfus eingetreten war, galt als pazifistisch
und womöglich als deutschfreundlich, obwohl manche der eifrigsten Ver-
teidiger des Hauptmanns Dreyfus, z. B. Clemenceau, der Kriegsminister
Picquart, der Senator Scheurer-Kestner u. a., enragierte Chauvinisten
und Deutschenfeinde waren. Andererseits sahen deutsche Konservative
mit spöttischem Auge auf das „Krämervolk“, wo Wellington, als er eine
Parade abhielt, von einem Platzregen überrascht, einen rasch herbei-
geschafften Regenschirm aufspannte und wo Herzogssöhne als Kommis
in Bankhäuser eintraten. Mitten im Weltkrieg, als die Engländer schon
manche Beweise nicht nur starken Nationalgefühls, sondern auch un-
zweifelhafter persönlicher Bravour abgelegt hatten, schrieb ein namhafter
deutscher Gelehrter, Professor Werner Sombart, ein Kriegsbuch, das er
„Helden und Händler‘ betitelte. Die Händler waren natürlich die Eng-