Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Deutschland 
und das 
Ausland 
430 WIR GINGEN DER WELT AUF DIE NERVEN 
politischen Instinkt, der dem deutschen Volke versagt blieb. Der uner- 
forschliche Wille der Vorsehung schuf, wie fast jede deutsche parlamentari- 
sche Debatte, namentlich über auswärtige Fragen, wie ein Blick auf die 
politischen Expektorationen eines Sombart, eines Lasson, eines Haller 
zeigt, den Deutschen als Söor dxoArtıxör. Die Voraussetzung jeder 
gesunden Politik ist die Erkenntnis, daß das Wesen eines großen Staates 
in erster Linie Macht ist. Aber in Deutschland schrieb, als der Weltkrieg auf 
seinem Höhepunkt stand und die letzte Entscheidung immer näher rückte, 
als Lloyd George vom „knock out‘ sprach und Clemenceau die „guerre 
jusqu’au bout“ predigte, als beide Stolz und Ehrgeiz und Machtwillen ihrer 
Völker mit allen Mitteln aufpeitschten, der Hoftheologe Dr. Adolf von 
Harnack mit einer Mischung von kindlicher Naivität und seniler Suffisance 
in einem durch Indiskretion in den Münchener „Bayrischen Kurier“ ge- 
langten Brief: er betrachte den Willen zur Macht immer mehr als Sünde. 
„Geh ins Kloster, Ophelia!“ hätten dem gelehrten Herrn seine Studenten 
zurufen sollen oder, noch besser, die Worte, die ein großer englischer Staats- 
mann, Disracli, einst im englischen Unterhause sprach: „Professoren und 
Rhetoren erfinden Systeme und Prinzipien. Die wahrhaften Staatsmänner 
sind nur von dem Instinkt zur Macht und der Liebe zum Vaterland be- 
seelt. Das sind Gefühle und Methoden, die große Reiche schaffen.“ 
Wie die Erkenntnis, daß der Wille zur Macht Triebfeder und Seele eines 
großen Staatswesens sein muß, so fehlte einem nicht kleinen Teil gerade der 
Gebildeten unseres Volkes das Verständnis für die Notwendigkeit welt- 
männischer Formen im internationalen Verkehr. Manche Deutsche wirkten 
abstoßend auf das Ausland durch einen groben Ton, durch Überhebung und 
stetes, allzu lautes Renommieren. Es war weit weniger der Miles gloriosus, 
der uns unbeliebt machte — der deutsche Offizier war, von verschwindenden 
Ausnahmen abgeschen, wohlerzogen und höflich —, als der aufgeblasene 
deutsche „Herr Doktor‘, der „Herr Professor‘ gar und der über Leichen 
gehende Pionier des Handels. Wir waren nie besonders beliebt gewesen, 
wir fingen an verhaßt zu werden. Schweizer, holländische, italienische, 
skandinavische, englische Freunde sagten es mir bei jedem Zusammen- 
treffen, nach jedem internationalen Kongreß. Und leider trug Wilhelm IL, 
der von dem brennenden Wunsch erfüllt war, uns nicht nur die Achtung, 
sondern auch die Liebe der Welt zu erwerben, gerade weil er viele der 
Schwächen und auch manche der antipathischen Eigenschaften des mo- 
dernen Deutschen verkörperte, dazu bei, uns die Sympathien des A uslandes 
zu entfremden. Wir gingen allmählich der Welt auf die Nerven. Nur wir 
selbst haben das bis zum Ende des Weltkriegs garnicht bemerkt. Bethmann, 
Michaelis, Hertling fehlten mit der weltmännischen Schulung das welt- 
männische Auftreten und die weltmännischen Manieren, ohne daß sie, wie
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.