Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Die Mächte- 
Gruppierung 
440 „MEIN LIEBER CLIQUOT“ 
ermordet worden war, hatte diesem zu Ehren den Namen Kettelerstraße 
erhalten. Über sein Verhältnis zu den Chinesen schrieb Herr von Mumm: 
„Man könnte mit diesem Volk gar nicht zurechtkommen, wenn das Gefühl 
der Verantwortung des einen für den anderen bei den Chinesen nicht so aus- 
gebildet wäre. Für alles, was passiert, ist mir der Headboy verantwortlich. 
Er wird am Ohr gezogen, wenn irgend etwas schief geht, und ihm bleibt 
überlassen, sich nach unten schadlos zu halten und die erhaltene Schelte 
weiterzugeben. Im übrigen ist das Leben infolge der Findigkeit der Chinesen 
und des zahlreichen Personals leicht. Man gibt Befehle und überläßt es den 
Untergebenen, wie sie die Ausführung möglich machen.“ Zu diesem letzten 
Satz hatte der Kaiser, dem ich den Brief von Mumm vorgelegt hatte, ad 
marginem geschrieben: „Bravo! Das ist mein Fall!“ Ich glaube kaum, 
daß selten eine Randbemerkung des Kaisers die Grundanschauung Seiner 
Majestät prägnanter ausgedrückt hat. Am Schlusse seines Briefes führte 
Herr von Mumm in verständiger Weise aus, daß er, ohne seinen russischen 
Kollegen, den persönlich wenig sympathischen Herrn von Giers, vor den 
Kopf zu stoßen, mit dem klugen Engländer Satow die besten Beziehungen 
unterhalte und auch mit dem Franzosen Pichon, dem nachmaligen Minister 
des Äußern, gut auskomme. Unter den Brief von Mumm hatte der Kaiser 
geschrieben: „‚Cliquot fängt seine Sache sehr geschickt an!“ Der Gesandte 
Mumm von Schwarzenstein war Besitzer großer Weinberge und Kellereien 
in der Champagne. Während er Botschaftssekretär in Paris war, sagte sein 
damaliger Chef, der greise Fürst Münster, der in seinem hohen Alter leicht 
Namen verwechselte, zu Mumm: „Mein lieber Cliquot, warum nennen Sie 
sich nicht lieber nur mit Ihrem zweiten Namen Ratzenstein, das klingt 
besser.“ Münster verwechselte Mumm mit Cliquot und Schwarzenstein 
mit Ratzenstein. 
Während des ganzen Verlaufs der chinesischen Wirren war die damals von 
Delcass& geleitete französische Politik bemüht, uns von England abzu- 
ziehen und zu einer Verständigung mit Frankreich und Rußland zunächst 
über Ostasien im antienglischen Sinne zu überreden. Da jedoch die Russen 
hierbei kaum einen Zweifel darüber ließen, daß die Franzosen die elsaß- 
lothringischen Ansprüche um keinen Preis fallenlassen und ihre Agitation 
gegen den Frankfurter Frieden trotz etwaiger Sonderabmachungen mit 
uns schwerlich einstellen würden, durften wir uns in Ostasien so wenig wie 
in Südafrika in einen Gegensatz zu England drängen lassen. Im übrigen war 
die damalige unbehagliche Stimmung der Russen begreiflich. Die chinesi- 
schen Unruhen bedeuteten eine Schwächung der europäischen Macht- 
stellung Rußlands, weil sie die ostasiatischen Friktionen zwischen Rußland 
einerseits, China, Japan, England und Amerika andererseits in steigendem 
Maße verschärften. Für Deutschland war dieser Zustand eine Entlastung
	        
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