Die Mächte-
Gruppierung
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ermordet worden war, hatte diesem zu Ehren den Namen Kettelerstraße
erhalten. Über sein Verhältnis zu den Chinesen schrieb Herr von Mumm:
„Man könnte mit diesem Volk gar nicht zurechtkommen, wenn das Gefühl
der Verantwortung des einen für den anderen bei den Chinesen nicht so aus-
gebildet wäre. Für alles, was passiert, ist mir der Headboy verantwortlich.
Er wird am Ohr gezogen, wenn irgend etwas schief geht, und ihm bleibt
überlassen, sich nach unten schadlos zu halten und die erhaltene Schelte
weiterzugeben. Im übrigen ist das Leben infolge der Findigkeit der Chinesen
und des zahlreichen Personals leicht. Man gibt Befehle und überläßt es den
Untergebenen, wie sie die Ausführung möglich machen.“ Zu diesem letzten
Satz hatte der Kaiser, dem ich den Brief von Mumm vorgelegt hatte, ad
marginem geschrieben: „Bravo! Das ist mein Fall!“ Ich glaube kaum,
daß selten eine Randbemerkung des Kaisers die Grundanschauung Seiner
Majestät prägnanter ausgedrückt hat. Am Schlusse seines Briefes führte
Herr von Mumm in verständiger Weise aus, daß er, ohne seinen russischen
Kollegen, den persönlich wenig sympathischen Herrn von Giers, vor den
Kopf zu stoßen, mit dem klugen Engländer Satow die besten Beziehungen
unterhalte und auch mit dem Franzosen Pichon, dem nachmaligen Minister
des Äußern, gut auskomme. Unter den Brief von Mumm hatte der Kaiser
geschrieben: „‚Cliquot fängt seine Sache sehr geschickt an!“ Der Gesandte
Mumm von Schwarzenstein war Besitzer großer Weinberge und Kellereien
in der Champagne. Während er Botschaftssekretär in Paris war, sagte sein
damaliger Chef, der greise Fürst Münster, der in seinem hohen Alter leicht
Namen verwechselte, zu Mumm: „Mein lieber Cliquot, warum nennen Sie
sich nicht lieber nur mit Ihrem zweiten Namen Ratzenstein, das klingt
besser.“ Münster verwechselte Mumm mit Cliquot und Schwarzenstein
mit Ratzenstein.
Während des ganzen Verlaufs der chinesischen Wirren war die damals von
Delcass& geleitete französische Politik bemüht, uns von England abzu-
ziehen und zu einer Verständigung mit Frankreich und Rußland zunächst
über Ostasien im antienglischen Sinne zu überreden. Da jedoch die Russen
hierbei kaum einen Zweifel darüber ließen, daß die Franzosen die elsaß-
lothringischen Ansprüche um keinen Preis fallenlassen und ihre Agitation
gegen den Frankfurter Frieden trotz etwaiger Sonderabmachungen mit
uns schwerlich einstellen würden, durften wir uns in Ostasien so wenig wie
in Südafrika in einen Gegensatz zu England drängen lassen. Im übrigen war
die damalige unbehagliche Stimmung der Russen begreiflich. Die chinesi-
schen Unruhen bedeuteten eine Schwächung der europäischen Macht-
stellung Rußlands, weil sie die ostasiatischen Friktionen zwischen Rußland
einerseits, China, Japan, England und Amerika andererseits in steigendem
Maße verschärften. Für Deutschland war dieser Zustand eine Entlastung