DER LEIBARZT IST RATLOS 457
feindlich tatsächlich gegen die Konservativen wenden, indem er sich den
Liberalen in die Arme wirft, um die Konservativen zu zerschlagen,
trat mir persönlich ganz aktuell vor Augen. Ich kann nicht anders sagen,
als daß ich in einen Abgrund von Haß und Erbitterung geblickt habe,
der durch nichts eine Änderung erfahren kann. Ich habe das Gefühl, daß
irgendeine neue in Erscheinung tretende Opposition der Agrar-Konser-
vativen den Becher zum Überlaufen bringen muß. Seine Majestät hat sich
nicht mehr in der Gewalt, wenn ihn die Wut erfaßt. Gestern sah er
nicht einmal, daß Matrosen in der Nähe standen, als er tobte, die jede Silbe
hören konnten. Hülsen war so entsetzt, daß er nachher krank wurde...
Ich halte den Zustand für sehr gefährlich, in dem wir uns befinden, und
weiß keinen Rat, Leuthold ist auch unsicher. Er sieht eine Art Schwäche
des Nervensystems in diesem Zustand, weist aber jede Befürchtung bezüg-
lich geistiger Veränderungen entschieden zurück. Ich habe das Gefühl,
auf einem Pulverfaß zu sitzen, und bin äußerst vorsichtig. Beschränke,
bitte, die politischen Mitteilungen auf ein möglichst geringes Maß und
erfordere Entscheidungen nur, wo sie unvermeidlich sind.“ Leuthold, der
langjährige Leibarzt Kaiser Wilhelms I., war nach dem Regierungsantritt
Kaiser Wilhelms II. in derselben Eigenschaft in dessen Dienst getreten. Er
war ein durch und durch achtungswerter, ruhiger und treuer Mann. Am
späten Abend desselben 15. Juli schrieb Eulenburg, es habe wieder bei Tisch
und nach Tisch so viele Aufregungen über Lappalien gegeben, daß man nicht
wisse, wohin dieser Zustand führen könne. Leuthold hätte ihm erklärt, er
sei ganz ratlos. Jeder Vorschlag einer Änderung der Lebensweise würde von
Seiner Majestät heftig zurückgewiesen. Es hieß in dem an mich gerichteten
Brief des besten Freundes Seiner Majestät weiter: „Leuthold erklärt mir,
das Leben auf dem Schiff sei keine Erholung, sondern eine Anstrengung,
doch wisse er nichts Besseres vorzuschlagen. Ich sehe auch nichts anderes,
als ruhig abzuwarten und Gott zu bitten, daß nicht irgend komplizierte
Dinge an Seine Majestät herantreten, denn mehrere Szenen, wie ich sie in
Kiel hatte, würden zu irgendeiner nervösen Krise führen, deren Form nicht
vorauszusehen ist. Gute Nacht. Es ist 1 Uhr, und ich bin sehr müde. Diese
Dinge gehen mir sehr nahe. Ich habe so viel Zutrauen in des Kaisers Be-
gabung — und in die Zeit gehabt, jetzt versagt beides, und man sieht
einen Menschen leiden, den man von Herzen lieb hat, ohne ihm helfen zu
können !“
Am 20. September 1900, vier Wochen vor meiner Ernennung zum Reichs-
kanzler, hatte mir Eulenburg aus Rominten eine „lebhafte“ Unterredung
gemeldet, die er mit Seiner Majestät über die agrarische Bewegung gehabt
hätte. Es hieß in diesem Brief: „Ich fand den Kaiser total verändert wieder:
gut aussehend, frisch, einfach, natürlich und ohne Exaltation. Das Manöver,
Unruhe
in Rominten