Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

PAROXYSMUS DER KAISERIN 459 
festen Überzeugung ist, daß nicht nur für die Prinzen, sondern für die 
Nerven der Kaiserin eine Trennung von den beiden Prinzen eine Notwen- 
digkeit ist. Er findet nicht das geringste Verständnis und ist voller Not 
und Sorge.“ 
Am 22. September schrieb Eulenburg weiter: „Ich begab mich nach dem 
Frübstück zu der Gruft des Vorbesitzers, um die schöne Aussicht zu ge- 
nießen, und sah, während ich dort saß, eine Gestalt in größter Eile in den 
Park hinausstürzen ... Ich wendete mich dem Weg zu und entdeckte die 
Kaiserin, die wie ein gehetztes Reh (ich will nicht sagen wie eine gehetzte 
Kuh) dem Kaiser nachstürzte. Es wunderte mich wahrhaftig, daß sie nicht 
der Schlag getroffen hat!... Die arme, liebe Kaiserin scheint wirklich in 
einer schlimmen Nervenverfassung zu sein! Nachmittags fuhren wir nach 
Braunsberg und Tilsit. Der Kaiser nahm mich sofort in sein Coup£, und es 
begann ein recht peinlicher,trauriger Herzenserguß. Ich willdas herausheben, 
was ich für das Wichtigste halte, denn diese Dinge werden für die nächste 
Zeit leider sehr bestimmend, sehr eingreifend in das Privatleben des Kaisers 
einschneiden und möglicherweise auf dem Nervenwege bedeutsam für 
die Politik werden. Die Kaiserin hatte die ganze Nacht Szenen gemacht 
mit Weinen und Schreien... Ein vollständiger Paroxysmus!“ Im An- 
schluß hieran schilderte mir Eulenburg die „Ratlosigkeit‘ des Kaisers, den 
diese Krisen und Szenen „tot‘‘machten. Er könne es nicht länger aushalten, 
die Kaiserin sei krank durch eine unmögliche Tageseinteilung. Sie könne 
nicht „bürgerliche“ Mutter, zärtliche Gattin und regierende Kaiserin zu- 
gleich sein. Eulenburg behauptete, der Kaiser habe zu ihm gesagt: „Sage 
Mir um Gottes willen, wie da zu helfen ist, denn der Gedanke, die arme 
Kaiserin in einer Kaltwasserheilanstalt endigen zu sehen, ist entsetzlich.“ 
Eulenburg hatte erwidert, man müsse leider bei der Kaiserin eine momen- 
tane Erkrankung des Nervensystems annehmen. Es handle sich nur dar- 
um, das ärztliche Mittel zu finden, die Heilung herbeizuführen. Die poli- 
tische äußere Lage, die innere nicht minder, sei so entsetzlich schwierig, 
daß sie die äußerste Kaltblütigkeit und Ruhe des Kaisers erfordere. Ver- 
liere er die Ruhe im Hause durch gestörte Nächte und Szenen aller Art, so 
leide nicht nur er, sondern auch der Staat durch seine gesteigerte Nervosität. 
Es müsse Wandel geschaffen werden. Die Eingeweihten würden die etwa 
getroffenen Maßregeln sicherlich nur als Schutz für Seine Majestät und 
niemals als eine Wendung gegen Ihre Majestät auffassen. Eulenburg hatte 
dann einerseits die Trennung der Kaiserin von den Söhnen August Wilhelm 
und Oskar, so daß sie nur den jüngsten Prinzen Joachim und die Prin- 
zessin bei sich behielt, andererseits einen längeren Aufenthalt in stiller und 
guter Luft empfohlen. Der Kaiser könne dann in gewissen Zeiträumen zu 
ihr fahren, müsse jedoch, auch wenn der Aufenthalt für vierzehn Tage
	        
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