Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

AM SEMMERING 25 
was die Engländer „a slow coach‘ nennen. Bevor er eine Antwort gab, 
pflegte er die Brille, die der kurzsichtige Mann immer trug, von der Nase 
abzunehmen, um sie langsam und lange zu putzen. Das gab ihm Zeit, seine 
Gedanken zu sammeln und seine Antwort vorzubereiten. Dieser Modus 
procedendi war gar nicht übel für Konversationen mit fremden Diplomaten, 
bei verfänglichen Fragen dieser letzteren. Aber der innerdienstliche Ver- 
kehr wurde dadurch nicht vereinfacht. Ich ersetzte später Rotenhan durch 
den Freiherrn von Richthofen, den ich als Direktor der Kolonialabteilung 
vorfand. Herr von Rotenhan hat als Gesandter in Bern und beim Vatikan 
dem Lande noch gute Dienste geleistet. Er starb, wenn mein Gedächtnis 
mich nicht täuscht, infolge eines Straßenunfalls, der dem trefflichen Mann 
infolge der Schwäche seines Augenlichtes zugestoßen war. Als ich die 
Geschäfte des Auswärtigen Amtes übernahm und damit nicht nur in das 
Licht der Öffentlichkeit trat, sondern auch, um mit dem Fürsten Bismarck 
zu sprechen: in die Drecklinie einrückte, gab ich Weisung, alle auf mich 
bezüglichen Karikaturen sorgfältig zu sammeln. Sie trugen bei ihrem Er- 
scheinen zu meiner Erheiterung bei, und noch heute blättere ich mit 
retrospektivem Vergnügen in den 27 stattlichen Bänden der über mich 
erschienenen Karikaturen, die eine Zierde meiner Bibliothek in der Villa 
Malta bilden. Als ich die Sammlung eröffnete, schrieb ich auf die erste 
Seite den Spruch von Goethe: 
„Sollen dich die Dohlen nicht umschrei’n, 
Mußt nicht Knopf auf dem Kirchturm sein.“ 
Am Semmering eingetroffen, tröstete ich meine Frau nach Möglichkeit 
über die ihr nach meinem Empfinden ziemlich sicher bevorstehende 
Exilierung nach Berlin, das sie übrigens später sehr liebgewann und wo sie 
sich sehr glücklich fühlen sollte, und machte mich an das, was ich ihr gegen- 
über, die inzwischen Goethe las, meine Gedankenarbeit nannte. Ich hatte 
mir einige wichtige Aktenstücke über unsere Beziehungen namentlich zu 
England und zu Rußland und über die Verhältnisse in Ostasien mitge- 
nommen, gleichzeitig auch das nötige Material für eine richtige Beurteilung 
unserer Handelsbeziehungen, insbesondere zu Rußland und Amerika. Ich 
hatte Hermann Helmholtz einmal erzählen hören, seine besten Gedanken 
wären ihm gekommen, wenn er, in mäßiger Gebirgsgegend langsam 
wandelnd, bergauf bergab gegangen wäre. Ohne mich mit dem großen 
Gelehrten vergleichen zu wollen, richtete ich mir meinen Tag so ein, daß 
ich am Vormittag die Akten studierte, nachmittags auf der Straße 
nach Mürzzuschlag oder bei der Besteigung des Sonnenwendsteins das 
Gelesene überdachte und mir unsere internationale Situation klarzu- 
machen suchte. 
Die 
auswärtigen 
Beziehungen
	        
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