Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

EUGEN RICHTERS KRANKER BRUDER 465 
gelächter seinen Platz räumen müssen. Aber schon in jenen nicht nur für 
Deutschland, sondern auch für die Pflege der deutschen Sprache und der 
deutschen Redekunst glücklicheren Zeiten bei Beginn des Jahrhunderts 
fiel mir auf, wie wenig Replik den meisten deutschen Volksboten zu Gebote 
stand. Namentlich auf ironische Wendungen wußten sie fast nie etwas zu 
erwidern. Ein alter Pariser Witz, ich glaube, er stammt von Alphonse Karr, 
behauptet, ein deutscher Besucher von Paris habe einmal ohne sichtbaren 
Grund nachmittags zwischen drei und vier Uhr laut zu lachen begonnen. 
Von französischen Freunden über den Grund dieser plötzlichen Heiterkeit 
befragt, habe er erwidert: nun erst hätte er den Witz verstanden, den er 
gestern abend im Theater gehört habe. Sarkastische Wendungen im Rede- 
gefecht werden bei uns im Parlament zunächst kaum begriffen. Erst wenn 
die Presse sie unterstrichen hat, werden sie erfaßt und je nach dem Partei- 
standpunkt als vorzüglicher Witz beifällig belacht oder als frivoler Scherz 
mit Entrüstung zurückgewiesen. 
Während der Diskussion über die nach der Meinung der Opposition, 
insbesondere auch der freisinnigen, zu späte Einberufung des Reichstags 
legte, vom Hause und von den Tribünen unbemerkt, ein mir persönlich 
nicht bekannter Abgeordneter — ich hörte später, es wäre ein Sozialist ge- 
wesen — einen Zeitungsausschnitt vor mich auf den Tisch. Als ich ihn zur 
Hand nahm, sah ich, daß es ein Artikel war, den die „Freisinnige Zeitung‘, 
das Organ des Abgeordneten Richter, im Sommer über die Frage der Ein- 
berufung des Reichstags gebracht hatte und der, wenn auch in verklausu- 
lierter Form, ein Zusammentreten der Volksvertretung schon im Sommer 
für unangebracht erklärte. Ich benutzte sogleich diese Auslassung, um den 
Führer der Freisinnigen unter großer Heiterkeit des Hauses in Widerspruch 
mit sich selbst zu setzen*. Am nächsten Tage erzählte mir ein Parteifreund 
von Eugen Richter, der fragliche Aufsatz der „Freisinnigen Zeitung‘ sei 
allerdings von Eugen Richter selbst geschrieben worden. Der Grund für sein 
Eintreten gegen eine frühere Einberufung des Reichstags mache aber dem 
guten, ja weichen Herzen des nach außen so bärbeißigen Demokraten nur 
Ehre. Sein Bruder sei von einem schweren, qualvollen und unheilbaren 
Leiden befallen worden, und der Wunsch, ihm während der letzten Wochen 
seines Lebens in dessen Todesstunde nahe zu sein, habe ihn zum Wider- 
spruch gegen eine frühere Einberufung des Reichstags veranlaßt. Ich ließ 
Herrn Richter sofort wissen, daß, wenn dieser Sachverhalt mir bekannt 
gewesen wäre, ich ihn wegen dieser Frage nicht angegriffen und ihn nament- 
lich nicht zum Objekt der Heiterkeit des Hauses gemacht haben würde. 
Herr Richter dankte mir persönlich, als ich ihm einige Tage später im 
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, S. 143; Kleine Ausgabe I, S. 161. 
20 Bulow I
	        
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