Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

480 EIN PURITANER 
seiner Kanzlerzeit, ein Jesuit, der Pater Blum. Für die Bettelorden hatte 
Hertling nicht viel übrig. Das Unglück des Grafen wollte, daß er am Abend 
seines Lebens, noch dazu in einem unendlich schwierigen Moment, mitten 
im Weltkrieg zum Reichskanzler ernannt wurde, als er dieser Aufgabe in 
keiner Weise mehr gewachsen war. 
Als wir in München nähere Bekanntschaft machten, stand er erst im 
siebenundfünfzigsten Lebensjahr. Meine persönlichen Beziehungen zu ihm 
sind auch durch spätere politische Zerwürfnisse und Mißverständnisse nicht 
getrübt worden. Er war der einzige Zentrumsabgeordnete, der nach meiner 
Reichstagsauflösung vom 13. Dezember 1906 Karten bei mir ließ, während 
die übrigen Vertreter der klerikalen Richtung die üble deutsche Gewohn- 
heit befolgten, politische Differenzen auf das persönliche Gebiet zu über- 
tragen, eine Unsitte, die in England und Frankreich, in Italien, in allen 
übrigen zivilisierten Ländern kein gebildeter Mensch versteht. Graf Hert- 
ling war eine Aristides-Natur, von strenger, ich möchte sagen spröder 
Integrität. Er war in jeder Richtung ein Puritaner, und obwohl mit dem 
Kopf der überzeugteste Katholik, erinnerte er in seinem Wesen an englische, 
Genfer oder holländische Kalvinisten. Fürst Chlodwig Hohenlohe, der 
Hertling nicht liebte, der allerdings ganz anders geartet war, pflegte von 
ihm zu sagen, er habe nie ein gutes Glas Wein getrunken, nie eine hübsche 
Frau geküßt, nie eine gut sitzende Hose gehabt. Hertling war eine kalte 
Natur. Ich weiß nicht, ob er je wirkliche Freundschaft empfunden hat. Er 
war gerecht, aber nicht wohlwollend. Jedes Strebertum, jeder Snobismus 
lag ihm ganz fern. Er war ein innerlich vornehmer Mann. Als der national- 
liberale Abgeordnete Prinz Heinrich Carolath ihn als Reichskanzler begrüßte 
und hierbei daran erinnerte, daß Hertling ihm schon vierzig Jahre früher 
in Bonn freundlich begegnet wäre, erwiderte der neue Kanzler: „Aber mein 
lieber Prinz, die Sache lag in Bonn gerade umgekehrt. Eure Durchlaucht 
waren dem bescheidenen Privatdozenten ein gütiger Gönner.“ Derselbe 
Hertling war geistig nicht ohne Hochmut. Auf Nichtgelehrte und Nicht- 
gebildete sah er miteinergewissen Verachtung herab und noch mehraufHalb- 
gebildete, zu denen er auch Gymnasialdirektoren und Landgerichtsräte 
zählte, die in seiner Partei in Berlin wie in München zahlreich vertreten 
waren. Hertling würde in seiner guten Zeit ein vortrefflicher preußischer 
oder bayrischer Minister gewesen sein. Sein Leitstern war in allem die 
Autorität. 1900 stand er in vertrauensvollen, guten Beziehungen zu dem 
Ministerpräsidenten Crailsheim, den er hochstellte, während er für dessen 
Nachfolger Podewils später nicht viel übrig hatte. Dieser doch kluge und 
tüchtige Mann war Hertling zu flott, zu elegant, nicht „‚ernst‘‘ genug. 
Ich benutzte meinen Aufenthalt in München, um mich von Lenbach 
malen zu lassen, und bestimmte damals mein Bild für den Reichstag, ohne
	        
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