EISENBAHN GEGEN PARTIKULARISMUS 487
Neffen liebte. Er kam immer wieder darauf zurück, daß es meine wichtigste
Aufgabe wäre, die hohe und glänzende Begabung des Kaisers, seine guten
Absichten, sein edles Wollen in den Dienst der Gesamtheit zu stellen, ohne
daß die zweifellos gefährlichen, zum Teil sehr gefährlichen Eigenschaften
des Oberhauptes des Reichs Bestand und Zukunft des Reichs gefährdeten.
Während der Großherzog über dieses Thema lange mit mir sprach, ruhte
seine Hand auf der Bibel, die er neben sich liegen hatte. Er blickte auf das
liebliche Oostal, das sich vor uns ausdehnte. „Wenn wir nur Frieden be-
halten, den Frieden der Ordnung im Innern, den Frieden mit der Welt,
einen Frieden in Ehren nach außen, so zweifle ich nicht an unserer Zukunft.
Blicken Sie auf dieses blühende Land. Wenn es auch anderswo nicht ganz
80 schön ist wie in unserem Baden, so sicht es doch in ganz Deutschland
jetzt gut aus, besser als je in unserer Vergangenheit, besser als in fast allen
anderen Ländern. Wir brauchen nur Ordnung und Frieden. Gott helfe
Ihnen beide erhalten.“
Von Karlsruhe begab ich mich nach Darmstadt, wobei mir klar wurde,
daß die deutsche Einheit durch nichts mehr gefördert worden war als durch
die Erleichterung der Verkehrsmöglichkeiten. Eisenbahn und Telegraph
waren die größten Feinde des Partikularismus. Wenn der Reisende in zwei
Stunden bequem von der badischen zur hessischen Hauptstadt gelangen
konnte, so war ein ernstlicher Gegensatz zwischen diesen beiden „Staaten“
wirklich kaum noch möglich. Auch in Darmstadt stieg ich, einer Aufforde-
rung des Großherzogs folgend, im Schloß ab. Überall stieß der Besucher
dort auf russische Erinnerungen. Daß die russischen Zaren zweimal zu
ihren Lebensgefährtinnen hessische Prinzessinnen gewählt hatten und daß
neben Alexander II. und Nikolaus II. Töchter des Darmstädter Hauses
den Zarenthron bestiegen hatten, war der Stolz jedes braven Darmstädters
und insbesondere des Fürstenhauses. Von den Wänden der Zimmer, die
ich bewohnte, schauten Zarenbilder herunter. Nachbildungen des Kreml,
des herrlichen Petersburger Denkmals Peters des Großen und des stolzen
Monuments Kaiser Nikolaus’ I. prangten auf Tischen und Schränken.
Der Großherzog Ernst Ludwig hatte wenig von seinem biederen Vater,
dem Großherzog Ludwig IV., der als tapferer Divisionär im Feldzug gegen
Frankreich verwundet worden war. Er hatte mehr von seiner bedeutenden
Mutter, der Großherzogin Alice, die, voll Geist und Bildung, die Darm-
städter durch die Freisinnigkeit ihrer politischen und religiösen Anschau-
ungen in Verwunderung gesetzt hatte. Großherzog Ernst Ludwig inter-
essierte sich lebhaft für die bildenden Künste, besonders für Architektur,
auch für Philosophie, hier und da in etwas inkohärenter Weise.
Bei der Tafel hiel mir auf, wie steif und unfreundlich der Verkehr zwischen
dem Großherzog und der Großherzogin war. Die Großherzogin Viktoria
Reise nach
Darmstadı