Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

KEIN FLIEGER, ABER — 497 
viel bedeutenderen Holstein inspirieren und führen zu lassen, daß er auf 
dem Pariser Posten, wo in erster Linie ruhige Nerven erforderlich waren, 
alle meist hastigen und unüberlegten, bisweilen ganz verfehlten Wei- 
sungen von Holstein stante pede und verbotenus ausführte und die Situation 
nur mit dessen Augen sah. Da Holstein seine ihm schon in der Bismarckschen 
Zeit eingeräumte Befugnis, mit den ihm befreundeten Botschaftern durch 
Privatchiffre zu verkehren, seinem geistigen Knecht Radolin gegenüber 
mit besondrer Vorliebe ausnutzte, so sind gerade auf diesem Posten meine 
politischen Weisungen speziell in der Marokko-Frage teils verschleppt, 
teils umgangen, teils falsch ausgeführt worden. 
Für Radolin kam nach St. Petersburg Graf Alvensleben, unter dem 
ich fünfundzwanzig Jahre früher als junger Sekretär debütiert hatte. 
Er war kein Flieger, aber ein sicherer und pflichttreuer Beamter, der 
das Petersburger Terrain kannte, wo er schon in den siebziger Jahren 
unter Prinz Heinrich VII. Reuß als Botschaftsrat gedient hatte und 
der die Russen zu nehmen wußte. Seine politische Brauchbarkeit wurde 
allerdings erheblich eingeschränkt, als er später als alter Junggeselle sich 
unter Hymens Joch beugte. Bismarck, der das glänzende Wort von 
der Hypothek der Eitelkeit geprägt hat, die von dem Werte jedes 
Menschen abgezogen werden müsse, meinte auch einmal, daß die 
Brauchbarkeit der meisten Diplomaten unter ihren Frauen litte. Ich 
habe ihn in Zusammenhang mit dieser Feststellung ausführen hören, daß 
die Frage zu erwägen sei, ob für Diplomaten nicht, wie für die katholischen 
Geistlichen, das Zölibat eingeführt werden sollte. 
Der große Mann liebte geistreiche Paradoxa. Er konnte, wenn er sich 
über die Volksvertretung geärgert hatte, in anscheinend vollem Ernst 
darüber diskurrieren, ob es sich nicht empfehle, den Reichstag nach Kassel 
zu verlegen. „Ab nach Kassel!“ wiederholte er dann lachend nochmals. 
Er behauptete sogar, er habe dem Kaiser vor langen Jahren einen 
solchen Vorschlag gemacht, wäre damit aber leider nicht durchgedrungen. 
Gewiß hat Fürst Bismarck teils infolge des nicht immer unbegründeten 
Widerspruchs seines alten Herrn, teils bei reiflicher Überlegung und aus 
besserer Einsicht manchen in ihm auftauchenden Gedanken nicht aus- 
geführt. Er hat aber nicht selten Gedanken, die niemand für realisierbar 
hielt, doch zur Wirklichkeit gemacht. Als ich im Jahre 1874 als junger 
Attache eines Abends im Salon der Fürstin Bismarck weilte, erschien ihr 
großer Gatte und verkündigte den Anwesenden, er werde am nächsten 
Tage den ehemaligen Botschafter Graf Harry Arnim verhaften und ein- 
sperren lassen. Als ich mit dem gleichfalls anwesenden damaligen Gesandten 
und späteren Botschafter Josef Radowitz die Treppe hinunterging — es 
war noch im alten Auswärtigen Amt, das heutige Reichskanzlerpalais war 
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Alvensleben 
"nach 
Petersburg 
Bismarcks 
Paradoxa
	        
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