Denkschrift
Richthofens
510 IMMER NOCH DIE DEUTSCH-ENGLISCHE ALLIANZ
sein. Vereinigt aber wären Rußland und Frankreich für England um so
mebr zu fürchten, als für den Fall eines englisch-russisch-französischen
Konflikts sich Deutschland bisher noch nicht zu einer für Großbritannıen
unbedingt wohlwollenden Neutralität verpflichtet habe. Genau in derselben
Lage befände sich umgekehrt auch Deutschland. Daraus ergebe sich fast
von selbst der Gedanke eines defensiven Bündnisses. Für den Fall eines
Angriffs von Rußland und Frankreich auf England oder auf Deutschland
sollte die entsprechende andere Macht mit ihrer gesamten Land- und Ser-
macht zugunsten des Angegriffenen eintreten. Der Vertrag müsse nach
Unterzeichnung durch die beiderseitigen Souveräne und Minister den
Parlamenten zur Annahme vorgelegt werden und solle zunächst auf fünf
Jahre Gültigkeit haben. Baron Eckardstein könne dabei hervorheben, daß
ein solches Schutz- und Friedensbündnis den Vorzug besitze, nicht den
Keim eines eventuellen Zwistes mit einer fremden Macht in sich zu tragen.
Er könne dabei durchblicken lassen, daß sich vielleicht später auf der
Grundlage eines defensiven Friedensvertrages eine weitere Vereinbarung,
also beispielsweise die Teilung eines viel umworbenen Streitobjektes wie
Marokko, um so leichter aufbauen ließe.
Im Gegensatz zu Holstein, der bei hoher politischer Begabung, reicher
Erfahrung und unbegrenzter Arbeitsfreudigkeit in seiner sprunghaften, hier
und da morbiden Weise nur zu oft die nötige Stetigkeit und Abgewogenheit
vermissen ließ, zeichnete sich der Staatssekretär Freiherr von Richthofen
durch Überlegung und ruhiges Urteil aus. Am 3. Februar hatte er mir die
nachstehende Denkschrift überreicht, die um so beachtenswerter war, als
Richthofen, wie ich bereits ausgeführt habe, nach Erziehung, Lebensgang
und durch seine ganze Weltanschauung weit mehr Sympatbien für England
als für Rußland hegte: „Eine deutsch-englische Allianz gewährt uns für
den Kriegsfall nach zweierlei Richtung Vorteile: 1. den Hauptvorteil, daß
England nicht in den Reihen unserer Gegner steht; 2. den nebensächlicheren
Vorteil, daß England in der Lage ist, die Flotten unserer Gegner von den
Meeren wegzufegen und so die Nichtbeeinträchtigung unseres überseeischen
Handels und unserer Kolonien zu sichern. Eine Unterstützung durch eng-
lische Landtruppen wird bei der gegenwärtigen Desorganisiertheit der
britischen Armee und ihrer Inanspruchnahme in Südafrika nicht wesent-
lich ins Gewicht fallen. Ebenso auch nicht die Absorbierung russischer und
französischer Landtruppen durch Beschäftigung derselben an der indischen
Grenze oder sonstigen Kolonialgrenzen. Der oben bezeichnete zweite Vorteil
ist deshalb ein nebensächlicher, weil England voraussichtlich auch ohne
Allianz die Gelegenheit eines Krieges des Zweibundes gegen Deutschland
oder den Dreibund benutzen würde, um die Flotten des ersteren möglichst
lahmzulegen, und sodann, weil, wenn nur als Mindestmaß die englische