Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

MIQUEL MUSS GEHEN 923 
politischen Parteien und Richtungen erprobt und genossen. Am nächsten 
Tage, es war mein Geburtstag, der 3. Mai 1901, schloß ich den Landtag mit 
der Erklärung, daß die Königliche Staatsregierung die Kanalvorlage als 
ein Ganzes betrachte, aus der wesentliche Bestandteile nicht ausgeschaltet 
werden könnten. Gleichzeitig ließ ich Miquel in schonender Weise durch 
meinen Chef der Reichskanzlei, Herrn von Wilmowski, nahelegen, sein 
Abschiedsgesuch einzureichen. An seine Stelle trat der bisherige Minister 
des Innern, Freiherr von Rheinbaben, eine noch junge, unverbrauchte und 
ungewöhnliche Kraft. 
Rheinbaben war ein unermüdlicher Arbeiter, der, immer cine starke 
Zigarre im Munde, stundenlang an seinem Schreibtisch seine Akten be- 
wältigen konnte, ein ausgezeichneter Redner, mit dem es an Schlagfertig- 
keit und Schwung wenige aufnahmen, ein offener, unerschrockener, nobler 
Charakter. Weniger mit seinen Anschauungen als mit seinem Herzen stand 
er schr weit rechts, und das beeinträchtigte bis zu einem gewissen Grade 
für mich seine politische Verwendbarkeit. Aber niemand konnte Georg von 
Rheinbaben kennenlernen, ohne ihn liebzugewinnen. Verglichen mit der 
Selbstsucht mancher seiner Kollegen, erschien er mir im Staatsministerium 
während bald neun Jahren als unter Larven die einzig fühlende Brust. Er 
war der Sohn eines 1866 auf dem Felde der Ehre gefallenen Offiziers, der 
Schwiegersohn des Freiherrn Rochus von Liliencron, des allgemein ver- 
ehrten Nestors der deutschen Germanisten. An Rheinbabens Stelle trat 
als Minister des Innern der bisherige Bezirkspräsident von Metz, Freiherr 
von Hammerstein, ein Hannoveraner aus welfisch gerichteter Familie, aus 
dem ein trefflicher preußischer Staatsdiener werden sollte. Ich kann mich 
seiner nicht erinnern, ohne eines Zwischenfalls zu gedenken, der für die 
traurige Schwäche unseres Nationalgefühls charakteristisch war. Im Reichs- 
tag richtete einige Jahre später ein Welfe gegen den Minister von Hammer- 
stein einen heftigen Angriff, den er, unter Hinweis darauf, daß dessen Vater 
ein intransigenter Welfe gewesen wäre, des Abfalls von den Traditionen 
seiner Familie beschuldigte. Hammerstein antwortete in einer mich er- 
greifenden Weise, indem er ausführte, daß die Eindrücke des Jahres 1870, 
wo er, bis dahin welfisch gesinnt, den Weg zu Preußen und zu Deutschland 
gefunden, den Krieg mitgemacht und sich für immer der schwarzweißen 
und schwarzweißroten Fahne angeschlossen habe, für ihn den Weg nach 
Damaskus bedeutet hätten. Im italienischen Parlament würde eine solche 
Rede eines in seiner Jugend partikularistisch gesinnten Italieners allge- 
meinen und stürmischen Beifall entfesselt haben. Bei uns wurde sie durch 
höhnisches Gelächter der Sozialisten, des Zentrums und der Freisinnigen 
anterbrochen, während die Konservativen verlegen schwiegen und nur die 
Nationalliberalen schüchternen Beifall spendeten. 
Für 
Rheinbaben 
Jlammerstein- 
Loxten
	        
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