EIN TRICK 533
Gutgläubigkeit und Glaubwürdigkeit der Regierung Mangel an Entgegen-
kommen für die Interessen der Landwirtschaft vorzuwerfen. Um dies zu
erreichen, glissierte ich unter der Hand in ein demokratisches süddeutsches
Blatt die Notiz, daß allen denjenigen eine herbe Enttäuschung bevorstehe,
die einen maßvollen Zolltarif erwartet hätten. Nach dem, was über den
künftigen Zolltarif verlaute, wären die weitestgehenden Besorgnisse hin-
sichtlich einer allgemeinen Verteuerung der Volksernährung und einer
gleichzeitigen ernsten Störung aller unserer Handelsbezichungen nur zu
sehr gerechtfertigt. Es folgten einige ad hoc ausgesuchte und zugespitzte
Angaben über die von der Regierung „leider“ in Aussicht genommenen
„exorbitanten‘“ Agrarzölle. Bald nachher ließ ich in der „Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung“ erklären, daß, nachdem ‚‚durch eine bedauerliche
Indiskretion“ ein Teil des Zolltarifentwurfs bekanntgeworden wäre, ich
die Zustimmung der Bundesregierung zur amtlichen Publikation eingeholt
hätte, die sodann erfolgte. Nun erhob sich in der ganzen linksstehenden
Presse ein fürchterliches Geschrei. Die demokratischen Blätter tobten
wegen der gesetzlichen Bindung der Mindestzölle, die sozialistischen
drohten mit Obstruktion. Der ‚Vorwärts‘ erklärte, der Zolltarif ginge weit
über jedes Maß hinaus, das selbst die pessimistischsten Beurteiler des
Kanzlers Bülow erwartet hätten. Auch die mildere Tante Voß sah das Ende
der Handelsvertragspolitik, die völlige wirtschaftliche Isolierung Deutsch-
lands gekommen. Das agrarische Hauptorgan, die „Deutsche Tages-
zeitung“, suchte den Hieb zu parieren, indem sie behauptete, der von der
Regierung beabsichtigte Zolltarif könne selbst die bescheidensten Land-
wirte nicht zufriedenstellen. Sie fand aber damit wenig Glauben und nicht
viel Anklang. Die Stimmung war für sie verdorben, die Situation verscho-
ben. Die extremen Agrarier waren, wie ich das beabsichtigt hatte, aus der
Rolle des mit einigem Recht klagenden Hungerleiders in die des nie zu be-
friedigenden Nimmersatts versetzt worden. So wurde es dem Führer der
Konservativen, dem Grafen Stirum, erleichtert, seine Partei zusammenzu-
halten und vor einer selbstmörderischen Opposition gegen den Zolltarif-
entwurf zu bewahren, die für die Konservativen ebenso verderblich ge-
wesen wäre wie für die Landwirtschaft. Die Führung des Grafen Stirum
war vom Staatsinteresse inspiriert und in ihren Zielen eine staatsmännische.
Acht Jahre später wurde die konservative Partei von Herm von Heyde-
brand, der über parteipolitischen Erwägungen das Staatsinteresse vergaß,
in eine Richtung gedrängt, die Preußen, die dem Reiche und die schließlich
auch der Partei selbst schwere Wunden schlagen sollte.