SCHWIEGERMUTTER UND SCHWIEGERTOCHTER 539
Sie hatte etwas Vornehmeres als ihr ältester Sohn, der aber in gewisser
Hinsicht mehr Bon Enfant war als sie, mehr gemütlich im deutschen Sinn.
Dafür hatte die Mutter eine tiefere Bildung als der Sohn, auch bessere
Manieren. Die Gerechtigkeit gebietet, hinzuzufügen, daß die geistigen
Horizonte beider, der Mutter und des Sohnes, weiter gezogen waren als
jene, die das Gesichtsfeld der Tiefenbacher der.deutschen Republik, der
Scheidemann und Wirth, der Preuß und Erzberger, bestimmten.
Auf künstlerischem Gebiet dachte die Kaiserin Friedrich spießbürgerlich.
Sie zog Händel weit Richard Wagner vor, ließ kaum Beethoven gelten und
fand Schillers Lied an die Freude „schrecklich übertrieben, beinahe als ob
ein Betrunkener es gedichtet hätte“. Ihr Ideal war Tennyson, der Poeta
laureatus der Victorianischen Epoche. Für Kunstgewerbe hatte sie leb-
haftes Interesse und zweifellos Verständnis und war nicht ohne Erfolg
bemüht, in Berlin nicht nur die Möbel, sondern den ganzen Zuschnitt des
Lebens in ihrer Weise zu zivilisieren. Der verwandtschaftliche Sinn war bei
ihr viel ausgeprägter als bei dem Sohn, bei dem das liebe Ich alles andere
in den Hintergrund drängte. Die Kaiserin Friedrich war für ihre Töchter
die zärtlichste Mutter, sie liebte diese mehr, als die Töchter sie liebten,
was vielleicht darauf zurückzuführen war, daß sie durch ihre ungeheure
Aktivität die Töchter stark ermüdete und ihnen dadurch das längere Zu-
sammensein mit ihr verleidete. Mit unbegrenzter Liebe hing sie an ihren
englischen Verwandten und allen Verwandten ihrer englischen Verwandten,
an allem, was Leiningen, Hohenlohe, Battenberg, Augustenburg, Koburg
hieß bis herunter zur Familie Mensdorff-Pouilly.
Daß die Kaiserin Auguste Viktoria von väterlicher Seite eine Holstein,
von mütterlicher eine Hohenlohe-Langenburg war, hatte in der damaligen
Kronprinzessin Viktoria den Plan entstehen und reifen lassen, die am
Berliner Hof unbekannte Tochter eines halbverschollenen Prätendenten,
über den das Rad der geschichtlichen Entwicklung hinweggegangen war,
zur künftigen Königin und Kaiserin zu bestimmen, als diese wie der ihr
zugedachte Prinz Wilhelm noch in der Kinderstube spielten. Nachdem
später die Verbindung zustande gekommen war, stellte sich die junge
Prinzeß von Holstein, wie mir dies der kluge Justizminister Friedberg vor-
ausgesagt hatte, bei allen Differenzen zwischen ihrem Mann und ihrer
Schwiegermutter auf die Seite ihres Mannes, an dem sie nicht nur pflicht-
mäßig, sondern mit der ganzen Wärme ihres Gemüts hing. So wurde das
Verhältnis zwischen der Schwiegertochter Auguste Viktoria und ihrer
Schwiegermutter, der Kaiserin Friedrich, noch weniger freundlich, als es
einst das Verhältnis der Schwiegertochter Viktoria zu der Schwiegermutter
Augusta gewesen war. Fürst Bismarck stand der Kaiserin Friedrich nie
mit der innerlichen Erbitterung gegenüber wie während seiner ganzen