Ritt des
Kaisers nach
Wyschtyten
546 WILHELM II. ALS KURIER DES ZAREN
Von Hela begab sich Kaiser Wilhelm II. nach herzlichem Abschied von
Kaiser Nikolaus II. zu seinem gewohnten Jagdaufenthalt nach Rominten,
wo schon Philipp Eulenburg auf ihn wartete, der mir unter dem 23. Sep-
tember 1901 schrieb: „S. M. nahm meine Gratulation zu seinem Danziger
Erfolg sehr warm auf und erzählte mir viele Details: natürlich war der
Besuch des Zaren in Frankreich ein großer Mißerfolg, und auf England
hagelte es verächtliche und fast feindliche Worte. Wilhelm Proteus. Von
Dir sprach S. M. in der wärmsten und anerkennendsten Weise. Du hättest
Kaiser Nikolaus völlig bezaubert, und das sei das Wichtigste der ganzen
Entrevue gewesen.‘ Philipp Eulenburg, der ein nicht gewöhnliches Er-
zählertalent besaß, gab mir weiter eine deliziöse Schilderung der kaiser-
lichen Expedition nach Wyschtyten, einem Städtchen an der preußisch-
russischen Grenze, nur wenige Kilometer von Rominten entfernt. Der kleine
Ort war einige Wochen früher zum größten Teil durch Feuer zerstört wor-
den. Philipp Eulenburg schrieb mir: „Wir waren kaum gestern abend in
Rominten eingetroffen, als ein langer Bericht über den Brand der kleinen
russischen Grenzstadt einverlangt wurde, den der schläfrige Forstmeister
Saint-Paul abstattete, dann wurde gegessen und nachher verkündet, Seine
Majestät werde morgen, also heute nachmittag, als russischer General nach
Wyschtyten sprengen und auf dem dortigen abgebrannten Marktplatz
5000 Rubel im. Auftrag des Zaren unter die weinende Bevölkerung verteilen.
Es sind 150 Familien abgebrannt, lauter Juden. Das kann ja ein großartiger
Moment werden. Der selige Jeremias wird die Stunde segnen und sich
besonders sehr über die neue russische Dragoneruniform freuen.“ Am
nächsten Tag schrieb mir Eulenburg über diesen „apokalyptischen Ritt‘
weiter: „Seine Majestät bestieg ein Pferd und ritt, von zwei Adjutanten,
Richard Dohna und Forstmeister Saint-Paul begleitet, im Galopp über
die Grenze. Ich folgte mit August Eulenburg und Admiral Hollmann im
Wagen. Welches seltsame Unternehmen! Der Polizeiwachtmeister trieb
schimpfend und schlagend die armen Juden auf den Marktplatz, wo S. M.
sich aufgestellt hatte, um eine Rede zu halten. Die Juden hatten die ‚lange
Nacht‘ und kamen widerwillig und greulich schmutzig aus der Synagoge.
Endlich standen etwa 200 Menschen auf dem Platz, und der Kaiser hielt eine
schwungvolle Rede, die niemand verstand. Dann traten Juden an mich
heran und fragten, wer der russische Offizier sei? Sie glaubten nicht, daß es
der Deutsche Kaiser sei, ‚der doch wohl nicht nach Wyschtyten käme und
dann doch eine deutsche Uniform tragen müsse‘. Kurz und gut, es hat
eigentlich niemand begriffen, wozu das alles war. In der Hauptsache war
es wohl der Wunsch, Wyschtyten zu sehen, dazu kam die Gelegenheit, eine
Rede zu halten, die russische Uniform zu tragen, und doch auch der Wunsch,
zu helfen. Heute früh schoß der Kaiser nach zwei vergeblichen Pirschen