Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Berichte 
Alvenslebens 
und Werders 
aus Petersburg 
548 DER ZAR WILL RUHE HABEN 
gegenüber dem Zaren die Note nicht forcieren. Den Ritt nach Wyschtyten 
hätten nicht nur die meisten Russen, sondern auch der Zar für ein nicht nur 
seltsames, sondern etwas würdeloses Nachlaufen gehalten. ‚Trachten Sie, 
meinen Bruder, den Kaiser, dahin zu bringen, freundlich und höflich mit dem 
Zaren zu sein, ihn aber nicht mißtrauisch zu machen und vor allem ihn in 
Ruhe zu lassen. Das ist die richtige Formel für seine Behandlung.“ Von der 
Umgebung des Zaren hätte der Generaladjutant und Hausminister 
Fredericksz den größten Einfluß; er sei entschieden deutschfreundlich und 
durchaus zuverlässig. Prinz Heinrich, der sehr englisch war und Politik 
mehr mit dem Herzen als mit berechnendem Verstand trieb, klagte dar- 
über, daß der Zar „leider“ schlecht auf England zu sprechen wäre. Der Zar 
mißtraue der englischen Politik und verachte die englische Armee wie das 
englische konstitutionelle, parlamentarische Regierungssystem. Darin sei 
er Moskowiter. Er habe auch keine besondere Achtung vor seinem Onkel, 
dem König Eduard. Unternehmen wolle er aber gegen England ebensowenig 
etwas wie gegen irgendein anderes europäisches Land. Wenn er je in Europa 
Krieg führe, so würde dies nur sein, weil er sich von einer anderen Groß- 
macht angegriffen glaube. Der Zar wolle nicht einmal die Mandschurei 
haben, sie aber auch keinem anderen überlassen. Dasselbe gelte für Korea. 
Der Zar sagte seinem Schwager Heinrich, die Japaner in Korea würden so 
viel bedeuten, als daß in Ostasien eine neue Bosporus-Frage geschaffen 
werde. Wenn die Japaner versuchen sollten, sich in Korea festzusetzen, so 
wäre das für Rußland allerdings ein Casus belli. Der Zar vertraute seinem 
Schwager an, daß ein Zusammenstoß zwischen Japan und Rußland früher 
oder später eintreten dürfte, aber nicht vor vier Jahren, bis wohin Ruß- 
land die maritime Superiorität im Stillen Ozean erlangt haben würde. Wäre 
Rußland erst so weit, so würden sich die Japaner hüten, mit ihm anzu- 
binden. In fünf bis sechs Jahren würde auch die Sibirische Bahn vollendet 
sein, die er, der Zar, als sein Lebenswerk betrachte. Für diese Bahn brauche 
er französisches Geld, würde aber politisch vor den Franzosen auf der Hut 
sein und sich nicht von ihnen exploitieren lassen. Deutschland und Ruß- 
land müßten untereinander Frieden halten und so den Weltfrieden aufrecht- 
erhalten. 
Die Mitteilungen, die ich aus St. Petersburg von dem Botschafter Alvens- 
leben, von Zeit zu Zeit auch durch den Freund der russischen Kaiserfamilie, 
den nach wie vor oft nach St. Petersburg eingeladenen General von Werder, 
erhielt, stimmten im allgemeinen mit den Eindrücken des Prinzen Heinrich 
überein. Werder hatte mir im Frühjahr 1901 geschrieben, daß auch die 
Kaiserin-Mutter, obwohl sie seinerzeit über die Wilhelmshavener Rede des 
Kaisers („Pardon wird nicht gegeben“) außer sich gewesen wäre, doch 
überzeugt sei, daß wenigstens der Reichskanzler aufrichtig bemüht wäre,
	        
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