Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

564 DER ZERSCHNITTENE DRAIIT MIT RUSSLAND 
Frage der Deutschen unter den Polen war. Ich sah ein, daß aus Gründen, 
die mit unseren guten und mit unseren weniger guten Eigenschaften zu- 
sammenhingen, der Deutsche im Nationalitätenkampf nicht die wünschens- 
werte Widerstandskraft besitzt, daß er in diesem Kampfe nur zu oft Gefahr 
läuft, sein Volkstum zu verlieren, wenn ihm nicht der Staat den Rücken 
stärkt und ihm schützend und stützend zur Seite steht. In dem schwachen 
Nationalgefühl des Deutschen lag eine der größten Schwierigkeiten der 
Ostmarkenfrage, aber zugleich für mich der vielleicht stärkste Beweis für 
die Unerläßlichkeit einer festen und stetigen Ostmarkenpolitik. Wir be- 
saßen nun einmal nicht die Eigenschaften, die es den Franzosen ermöglicht 
hatten, sich wenigstens die höheren Schichten der elsässischen und lothrin- 
gischen Bevölkerung zu assimilieren, mit denen Nizza und Korsika französi- 
siert worden waren. Was aus den Deutschen wurde, wenn nicht der Staat 
seine Hand über sie hielt, zeigte ein Blick auf Österreich. Ich kannte die 
dortigen Verhältnisse besser als die meisten Deutschen. Ich wußte, daß das 
Deutschtum in Böhmen, in Mähren, in Krain und in Südsteiermark an die 
Wand gedrückt wurde und zurückging, sobald es von Wien aus nicht mehr 
gehalten wurde, daß es in Galizien, in Ungarn verdrängt und aufgesogen 
worden war, als es keinen Rückhalt mehr in Wien fand. Von sentimentalen 
Regungen gegenüber den Polen war ich frei. Ich hatte weder die Haltung 
der polnischen Intelligenz 1830 und 1848 vergessen, noch das Blutbad von 
Thorn, noch die erste Schlacht von Tannenberg, die größte Niederlage, die 
unser Volkstum in Jahrhunderten erlitten hatte. Und wie sprangen die 
Polen selbst mit den Ruthenen in Galizien um! Führten nicht die Ruthenen 
in den Karpathen und am Pruth gleiche, nur noch heftigere und vor allem 
viel begründetere Klagen gegen die Polen als diese an der Warthe und an der 
Weichsel gegen uns? Ich bin mir nie darüber im Zweifel gewesen, daß, wenn 
es je den Polen gelingen würde, sich Deutsche zu unterwerfen, sie diese 
Unglücklichen mit größter Härte und schnödem Übermut regieren würden. 
Zu meiner Haltung in der Ostmarkenfrage bestimmten mich auch schwer- 
wiegende Gründe unserer auswärtigen Politik. Eine der Voraussetzungen 
für die so wichtige und, nachdem von uns selbst in ungeschickter Weise 
der Draht mit Rußland zerschnitten und das russisch-französische Bündnis 
ermöglicht worden war, schwierige Aufrechterhaltung freundlicher Be- 
ziehungen zu Rußland war ein fester Kurs in unserer Polenpolitik. Jede 
schwächliche Nachgiebigkeit gegenüber der großpolnischen Agitation bei 
uns erweckte Mißtrauen in St. Petersburg, wo man seit den Tagen von 
Caprivi dahinter die Absicht vermutete, sich die Kooperation der Polen für 
einen Krieg mit Rußland zu sichern. Ich war immer der Ansicht, daß wir 
alles Interesse daran hatten, einen Krieg mit Rußland zu vermeiden. Ich 
war überzeugt, daß ein solcher Konflikt zu vermeiden war, und zwar in allen
	        
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