EIN SCHAUERLICHES FIASKO 565
Ehren und mit aller Würde. Vor allem war ich davon durchdrungen, daß
uns kaum ein größeres Unheil zustoßen könne als die Wiederherstellung
eines selbständigen Polens. Zu dieser Ansicht habe ich mich nicht etwa post
festum bekehrt, nachdem das Experiment von Bethmann Hollweg und
seinen Freunden ein so elendes, ein so schauerliches Fiasko gemacht hat.
Seit den ersten Tagen meiner Amtsführung als Reichskanzler war ich eben-
so durchdrungen von der Gefahr jeder Wiederherstellung von Polen wie
von der Notwendigkeit, das Deutschtum in unseren östlichen Provinzen
mit Stetigkeit und mit Energie zu schützen und zu fördern. Auf meinem
Schreibtisch lag während vieler Jahre der prächtige Aufsatz von Treitschke
über das deutsche Ordensland Preußen. Darum hatte ich schon am 10. De-
zember 1901 im Reichstag erklärt, daß für meine Ostmarkenpolitik nichts
anderes maßgebend sein könne als die Staatsräson und meine Pflicht gegen-
über dem Deutschtum. Dieser meiner Pflicht wolle ich eingedenk bleiben.
Angesichts der ernsten Gefahr, die nach meiner Überzeugung unserem
Volkstum im Osten drohe, würde ich tun, was meines Amtes sei, damit der
Deutsche im Osten nicht unter die Räder komme*.
Damals hatte ein unbedeutender Vorfall in einer Gemeindeschule in der
kleinen Kreisstadt Wreschen in Warschau und in Lemberg zu deutsch-
feindlichen Kundgebungen vor dem Deutschen Konsulat geführt. In War-
schau waren diese Demonstrationen von der russischen Polizei mit Ent-
schlossenheit unterdrückt worden. In Lemberg war die Haltung der k. k.
Behörden zweideutig und schwächlich gewesen. Auch darauf hatte ich in
meiner Reichstagsrede hingewiesen, was den österreichisch-ungarischen
Vertreter in Berlin, meinen alten Freund Szögyenyi, sehr unglücklich
machte, aber für den Ballplatz in Wien ein nützlicher Avis au lecteur war.
In einer zweistündigen Rede im Preußischen Landtag** entwickelte ich
am 13. Januar 1902 meinen Standpunkt in der Ostmarkenfrage ausführlich
und gründlich. Ich wandte mich vor allem gegen den Vorwurf, als ob ich
irgendwie daran dächte, im Osten den Rechten der katholischen Kirche
oder den Empfindungen katholischer Staatsbürger zunahezutreten. Solche
Rechte und Empfindungen würde ich immer und überall gewissenhaft
respektieren. Ich würde die Politik des Landes niemals nach einseitig
konfessionellen Gesichtspunkten zurechtschneiden. Ich würde ebensowenig
eine protestantisch-konfessionelle wie eine katholisch-konfessionelle Politik
machen, so wenig eine liberale wie eine konservative Parteipolitik. Für mich
gäbe es weder ein evangelisches noch ein katholisches, so wenig ein konser-
vatives wie ein liberales Deutschland, sondern vor meinen Augen stünde
die eine und unteilbare Nation, unteilbar in materieller und unteilbar in
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, $. 237; Kleine Ausgabe II, S. 22.
** Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, S. 256; Kleine Ausgabe II, S. 93.
Polnische
Demon-
strationen