Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

570 WILHELM, DER SCIHÜCHTERNE 
Rede war der alten Hochmeister würdig, eines Hermann von Balk und eines 
Hermann von Salza. Sie aber lassen mich reden, als ob ich Lehrer der 
Geschichte an einer höheren Töchterschule wäre.“ Lucanus und ich ließen 
aber nicht locker, die Zeit drängte, und schließlich gab der Kaiser nach, 
aber nicht ohne dem Chef des Zivilkabinetts den gemessenen Befehl zu 
geben, den Urtext seiner Rede im kaiserlichen Hausarchiv aufzubewahren. 
„Denn“, meinte der Kaiser, „meine Nachfolger sollen einmal wissen, daß 
ich forsch war.“ Als der Kaiser abgereist war, sagte mir der russische Bot- 
schafter, Graf Osten-Sacken, der die Ansprache Seiner Majestät in ihrer 
ursprünglichen Fassung schaudernd angehört und meine Auseinander- 
setzung mit dem hohen Herrn nach Aufhebung der Tafel beobachtet hatte: 
„Sa Majeste l’Empereur est charmant, tout ce qu’il y a de plus seduisant 
comme homme. Mais comme souverain, il est bien dangereux et cela sans 
vouloir, au fond, faire du mal a personne. Voila, il est incoherent! Dieu 
vous garde aupres de lui.‘“ Um dieselbe Zeit schrieb ein französischer 
Schriftsteller Nauzannes in einer Studie über Wilhelm II.: „I fallait a 
l’Allemagne un chef grave, silencieux et mesure. Le destin lui a donne un 
maitre agreable et primesautier, mais faible et Enerv£. Militaire, il ne l’est 
que pour ses diplomates, diplomate il ne l’est que pour ses militaires. 
Aucun chef d’Etat couronne n’a fait plus de mal a la monarchie et trahi 
plus completement et plus inconsciemment la confiance du meilleur de son 
peuple. On ne peut que le plaindre, tout en rendant hommage & ses qualites 
de c&ur et d’esprit dont une vanit€ maladive annule tous les bons effets.““ 
Ich habe oft beobachtet, daß auch über den Durchschnitt begabte 
Männer sich gern das Ansehen geben, gerade diejenigen Eigenschaften zu 
besitzen, die ihnen fehlen. Wilhelm II. verhehlte sich im Grunde nicht, 
daß ihm die Mens aequa, die Mens solida und die Tenacitas propositi ab- 
gingen, die Quintus Horatius Flaccus vom Manne fordert. Gerade deshalb 
suchte der Kaiser durch laute Reden und starke Worte andere und sich 
selbst über seine innere Unsicherheit und Ängstlichkeit zu täuschen. Diese 
Tendenz soll nach meinem Rücktritt noch zugenommen haben, nachdem 
Seiner Majestät eingeredet worden war, die Franzosen hätten ihm den 
Spitznamen „Guillaume le Timide“ gegeben. Ich hatte im schlimmen Juli- 
monat 1914 nicht mehr die Ehre, in der Nähe Seiner Majestät zu weilen, 
habe aber von zuverlässigen Herren aus der Allerhöchsten Umgebung 
gehört, daß die sehr erregten, kriegerisch anmutenden Marginalien des 
Kaisers vor und nach dem unseligen Ultimatum an Serbien dem Wunsch 
entsprungen waren, jeden Zweifel an seiner Bravour zu beseitigen. In 
Wirklichkeit hat, wie ich vorgreifend hier schon feststellen will, der Kaiser 
1914 so wenig wie in irgendeiner anderen Phase seiner Regierung den Krieg 
gewollt.
	        
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