BROTGETREIDE-ZÖLLE 591
stattete erihm, als die Erregung in Sachsen ihren Höhepunkt crreicht hatte,
einen demonstrativen Besuch ab, um der Welt zu zeigen, daß die sächsische
Dynastie in seinen Augen an Ansehen und Achtung keine Einbuße erlitten
hätte. König Georg selbst verlor leider so schr die Haltung, daß er in einer
Proklamation an sein Volk von seiner Schwiegertochter als von einer ‚‚im
stillen seit lange tief gefallenen Frau“ sprach, was natürlich den Verdacht
hervorrief, Herr Giron sei nicht der erste gewesen, mit dem sie ihren Gatten
betrogen hätte. Vielfach wurde angenommen, der König habe mit so
schimpflich verletzender Wendung andeuten wollen, der Kronprinz sei
gar nicht der wirkliche Vater der kronprinzlichen Kinder.
Im Oktober 1902 begann die zweite Beratung des Zolltarifs. Ich leitete
sie mit einer langen Rede ein, in der ich die Notwendigkeit begründete,
gegenüber den in anderen Ländern geplanten Tariferhöhungen auch unser
handelspolitisches Rüstzeug „erheblich“ zu verstärken. Insbesondere solle
uns die größere Spezialisierung des neuen Tarifes eine wirksame Waffe für
die bevorstehenden Vertragsverhandlungen bieten. Nur für die vier
Hauptgetreidearten: Roggen, Weizen, Gerste und Hafer, wäre, dem drin-
genden Wunsche der Landwirtschaft entsprechend, ein Maximal- und
Minimalzoll eingesetzt worden. Ich glaubte, daß ich die Höhe der Getreide-
zölle gerade richtig bemessen hätte, einerseits um die Landwirtschaft in
ihrer bisherigen Intensität und ihrem bisherigen Umfang zu erhalten,
andererseits um den Abschluß langfristiger Handelsverträge noch mög-
lich erscheinen zu lassen. Die Linke rief mir ironisch zu: „Noch!“ Diese
Zurufe veranlaßten mich, sogleich die Gründe zu entwickeln, die im natio-
nalen Gesamtinteresse es uns zur Pflicht machten, die Ernährung des
deutschen Volkes vom Ausland möglichst unabhängig zu stellen. Dabei
bezeichnete ich aber die Zollhöhe von 5 M. und 5,50 M. als die äußerste
Grenze, bis zu der bei der Erhöhung der Brotgetreidezölle gegangen werden
könne. Ich erklärte mit großem Nachdruck und erhobener Stimme, daß
eine Erhöhung oder Erweiterung der Mindestsätze das Zustandekommen
von Handelsverträgen unmöglich machen würde. Ich richtete an die linke
Seite des Reichstags die Aufforderung, den Gang unserer Verhandlungen
nicht durch künstliche Mittel aufzuhalten oder in die Länge zu ziehen.
Jede Obstruktion, betonte ich unter großem Lärm der Sozialdemokratie,
schädige Ansehen, Stellung und Schwergewicht der Parlamente und der
parlamentarischen Institutionen. Am nächsten Tage erklärten die publi-
zistischen Organe der Konservativen und des Zentrums unisono ein Zu-
standekommen des Zolltarifs für ausgeschlossen. Der freisinnige Abgeord-
nete Gothein meinte, mit diesem Zolltarif und diesem Reichskanzler wür-
den wir „Mißhandelsverträge“, aber nie brauchbare Handelsverträge be-
kommen. Ich habe nie gehört, daß, als es mir später gelang, Handelsverträge
Zweite
Beratung
des Zolltarifs