Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

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Am 13. November nahm die Mehrheit des Reichstags die vorgeschlagene 
Abänderung der Geschäftsordnung an. Die Abstimmungen hatten früher 
gewöhnlich eine halbe, bisweilen dreiviertel Stunden gedauert; nach dem 
neuen Modus dauerten sie anfänglich 20, allmählich nur 9 bis 10 Minuten. 
Der 12. November 1902, an dem es zu einer stürmischen Geschäftsordnungs- 
debatte kam, war ein Ehrentag für Eugen Richter. Im Gegensatz zu man- 
chen seiner Parteifreunde und namentlich zu der Zwillingsschwester der 
Freisinnigen Volkspartei, der Freisinnigen Vereinigung, trat er unter dem 
lebhaften Beifall der Rechten und ebenso lebhaftem Widerspruch der Sozia- 
listen gegen die Sozialdemokratie auf. Er sah weiter als Theodor Barth, der 
„verrückte Fanatiker“, wie Rudolf von Bennigsen ihn in einem Brief an 
seinen Fraktionskollegen Hammacher am 22. August 1901 genannt hatte. 
Richter begriff, daß ein Sieg der sozialdemokratischen Richtung nicht nur 
eine große Gefahr für das Vaterland, sondern auch für die von der Frei- 
sinnigen Partei und vom freisinnigen Bürgertum seit jeher vertretenen 
Grundsätze und damit für Zukunft und Bestand der Volkspartei bedeute. 
Unter der energischen Leitung der Verhandlungen durch Graf Ballestrem 
wurde, nachdem über die Hauptpunkte des Zolltarifs zwischen den Mehr- 
heitsparteien und mir eine endgültige Verständigung zustande gekommen 
war, der Antrag Kardorff mit großer Mehrheit angenommen, nachdem 
ich mich mit der Herabsetzung einer Anzahl von Industriezöllen sowie mit 
der vorgeschlagenen Normierung der Viehzölle und Handhabung der Seu- 
chenpolizei einverstanden erklärt hatte. Die Bahn für die Annahme des 
Zolltarifs war frei. Es galt nur noch, die von den Sozialisten zu erwartende 
Obstruktion zu überwinden und sich nicht um das Geschrei des Bundes der 
Landwirte zu kümmern, dessen Hauptorgan, die „Deutsche Tageszeitung“, 
den Tag, wo die Verständigung über den Antrag Kardorff perfekt geworden 
war, als einen Dies ater für die Landwirtschaft bezeichnete. 
Der Antrag Kardorff wurde am 2. Dezember 1902 mit 200 gegen nur 44 
Stimmen als zulässig erklärt. Während der Geschäf: batte, die 
sich an diese Abstimmung knüpfte, suchten die Sozialdemokraten durch 
den taktmäßigen Ruf: „Rhabarber, Rhabarber“ die Reden der Mehrheits- 
vertreter unhörbar zu machen. Das Rhabarber-Geschrei hatten sie von den 
Meininger Schauspielern gelernt, die unter der Leitung des ausgezeichneten 
Ludwig Chronegk bei der Aufführung der berühmten zweiten Szene im 
dritten Aufzug des „Julius Cäsar“ von Shakespeare, wo Antonius an der 
Leiche Cäsars das Volk aufwiegelt, damit großen Beifall errungen hatten. 
Als nach dem Sturz des Obrigkeitsstaates die Sozialdemokratie sich in den 
Sattel schwang, wurde manche Versammlung gesinnungstüchtiger Mehr- 
heitssozialisten von Unabhängigen und Kommunisten mit dem Rhabarber- 
Rezept gestört. Während der Kämpfe um den Zolltarif traf der national- 
  
38 BulowI 
Sozial- 
demokratische 
Obstruktion
	        
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