EIN EHERNES BAND 601
eingehenden und sehr ernsten Brief an den Kaiser, in dem ich ihm etwa
sagte: Ich wisse sehr wohl, daß ihm jeder ernstliche Gedanke an Staats-
streich und Verfassungsbruch fernläge, nicht nur aus Gewissenhaftigkeit,
sondern auch weil er zu klug wäre, um nicht einzusehen, daß, wenn ein so
radikaler Schritt erfolgen sollte, die Gelegenheit dazu 1890 versäumt worden
wäre. Darüber seien wir uns ja einig, daß nur der Schöpfer der Reichsver-
fassung und Baumeister des Reichs, Fürst Bismarck, eine solche Operation
auf Leben und Tod hätte durchführen können. Wenn von revolutionärer
Seite versucht werden sollte, die Ordnung zu stören, die Verfassung zu
verletzen, einen Umsturz herbeizuführen, so würden solche Bestrebungen
nicht nur von mir, sondern von jedem Kanzler, der diesen Namen verdiene,
mit Festigkeit niedergeschlagen werden. Aber der Kaiser wäre sicherlich
mit mir der Überzeugung, daß wir weder nach außen einen prophylaktischen
Krieg führen noch im Innern einen prophylaktischen Bruch der beschwore-
nen Verfassung ins Werk setzen wollten. Jedoch gerade weil sich der Kaiser
mir gegenüber in ernster Unterredung so oft in diesem Sinne ausgesprochen
hätte, müsse er sich hüten, durch seine Reden und durch seine Gesten dem
deutschen Volk wie dem Ausland ein ganz falsches Bild von seinem Wesen
und von seinen Intentionen zu geben. Wenn er sich in dieser Beziehung
nicht größere Reserve auferlege, sein Temperament nicht besser zügle, so
könne es früher oder später zu einer Katastrophe kommen. — Es ist ein
schöner Beweis für den edlen Kern in der Natur des Kaisers, daß er mir
dieses Schreiben nicht nur damals nicht übelnahm, sondern auch nachträg-
lich in keiner Weise verargt hat. Er antwortete mir, er wisse sehr wohl, daß
ich es gut mit ihm meine und meine Pflicht als Kanzler der Krone gegen-
über zu erfüllen glaube. Er könne sich aber nun einmal nicht ändern und
müsse bleiben, wie er wäre. Das Weitere wollten wir dem lieben Gott
anheimstellen, der über das Haus der Hohenzollern immer die schützende
Hand gehalten hätte und auch ihn nicht im Stich lassen würde. Wilhelm II.
war keine dämonische Natur. Er war noch weniger ein Tantalide. Aber auch
um seine Stirn schmiedete der Gott ein ehern Band. Und was bei Goethe
Iphigenie zum König Thoas über die bedauerlichen Folgen sagt, die es für
Fürsten zu haben pflegt, wenn „Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld“
ihrem Blick verborgen bleiben, das galt auch von Wilhelm II.