Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

GIOLITTI 609 
Der Marquis Visconti-Venosta, mit dem ich bei meiner Schwieger- 
mutter A trois aß, betonte, was ich so oft von Italienern gehört hatte: daß 
die Beziehungen zwischen Italien und Österreich nicht wie diejenigen 
zwischen Italien und England oder zwischen Österreich- Ungarn und 
Frankreich ohne Gefahr um eine Nuance freundlicher oder kühler sein 
könnten. Schon wegen der Vergangenheit und im Hinblick auf den Irre- 
dentismus würden Italien und Österreich-Ungarn entweder aufrichtige 
Freunde oder zielbewußte Gegner sein. Eine ernsthafte Abkühlung der 
italienisch-österreichischen Beziehungen würde bald zu direkter Gegner- 
schaft führen. Er, Visconti, verlange von mir nicht, daß ich beständig 
zwischen Österreich-Ungarn und Italien vermittle, aber ich müßte auf 
beide ein scharfes Auge haben, die einen wie die anderen von Unvorsichtig- 
keiten abhalten. „L’Autriche-Hongrie et l’Italie sont deux chevaux trös 
enclins a se mordre; c’est au cocher, c’est-a-dire ä l’Allemagne, de les faire 
marcher ensemble. En somme, tout d&pend de l’Allemagne, de l’habilete de 
sa politique, du doigt& de son chancelier.““ 
Der König sprach mir mit großer Sympathie und hoher Anerkennung 
von dem damaligen Minister des Innern, Giolitti, der es verstünde, die 
Massen zu behandeln. Die konstitutionelle Frage müsse hinter die wirtschaft- 
liche zurückgedrängt und eine Versöhnung zwischen der Dynastie und den 
breiten Massen herbeigeführt werden. Es sei auch nicht zu bestreiten, daß 
namentlich in Süditalien in sozialpolitischer Beziehung noch alles zu tun 
sei. Givlitti wäre ihm persönlich treu ergeben, auch zu klug, um an die 
Lebensfähigkeit einer italienischen Republik zu glauben. Er habe gute 
Nerven, nie Furcht und sei der geborene Minister des Innern. Persönlich 
gefiel mir Giovanni Giolitti durch seine ruhige, sachliche und kühle Art. 
Die freundschaftlichen Beziehungen, die mich während vieler Jahre mit 
diesem bedeutenden Staatsmann verbanden, wurden bei jenem römischen 
Kaiserbesuch von 1903 angeknüpft. In den römischen Salons wurde damals 
über Giolitti wie auch über das Königspaar viel räsoniert, weil den 
höheren Gesellschaftskreisen die demokratische Richtung des Herrscher- 
paars wie des Ministers des Innern mißfiel. Wie die Verhältnisse lagen, 
waren aber beide auf dem richtigen Wege. Giolitti war ein Anhänger des 
Dreibunds und hatte für dessen unveränderte Beibehaltung den Ausschlag 
gegeben. 
Über das Verhältnis zu Frankreich sagte mir der König, es sei sehr 
gut, wie das den italienischen Interessen entspräche. Bei allen italienischen 
Politikern, mit denen ich sprach, begegnete ich einerseits dem Wunsch, 
mit Frankreich gut zu stehen, damit es Italien das nötige Geld für Eisen- 
bahnneubauten vorstrecke und dessen handelspolitische Interessen nicht 
schädige. Andererseits trat mir damals noch überall die Überzeugung 
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