622 SARTO GEWÄHLT
Ich antwortete ihm: ‚Sarto; Sie sofort vorgehen.‘ — Aufsehen erregte dieser
Vorgang nicht. Nach Eröffnung der Sitzung erbat sich nun der Kardinal
Puscyna vom Camerlengo sofort das Wort und teilte dem Kardinal-Kol-
legium mit, was er dem Camerlengo zugestellt habe. Dieser konnte nun
nicht mehr umhin, von der Exklusive des Kardinals Rampolla durch die
Krone Österreich dem Heiligen Kollegium Mitteilung zu machen, und ließ
das Puscynasche Schreiben vorlesen. Ich erhielt den Eindruck, als ob diese
Mitteilung unter den Kardinälen eine weit geringere Bewegung hervorrief,
als ich befürchtet hatte. Denn es war Gefahr vorhanden, daß nun noch ein
größerer Teil der Kardinäle bei ihrer Abneigung gegen fremde Einmischun-
gen in die Papstwahl für Rampolla und seine Wahl Partei nehmen würden.
Allein es erhob sich niemand, um gegen die österreichische Exklusive Ein-
spruch zu erheben als Rampolla selbst, der in leidenschaftlicher Erregung
gegen dieses Vorgehen als einen neuen Ictus contra libertatem Ecclesiae
protestierte. Eindruck machte er damit nicht; denn er behielt im dritten
Skrutinium 29 Stimmen, während Sarto 20 erhielt und Gotti auf 9 herab-
ging. Auch im vierten Skrutinium, am 2. August nachmittags, erhielt Ram-
polla nur noch eine Stimme mehr, nämlich 30, während Sarto 24 und
Gotti 3 erhielten. Im fünften Skrutinium, am 3. August vormittags 10 Uhr,
erhielt Rampolla nur noch 24 Stimmen, während Sarto bereits 27 und
Gotti wieder 6 erhielten. Im sechsten Skrutinium am Nachmittag stieg
Sarto auf 35 Stimmen, während Rampolla auf 16 fiel und Gotti 7 erhielt.
Inzwischen war Sarto aufgetreten und hatte inständigst und bewegt ge-
beten, von ihm abzusehen; alle waren von seiner Angst und Demut gerührt,
Notiz nahm niemand von seiner Weigerung. Ja, seine Freunde drangen heftig
auf ihn ein, seine Weigerung zurückzunehmen. Im siebenten Skrutinium
fiel dann die Entscheidung (4. August vormittags 10 Uhr). Es erhielten
Sarto 50 Stimmen, Rampolla 10, Gotti 2 Stimmen. Somit war Sarto ge-
wählt. Auf die Frage des Camerlengo, ob er die Wahl annehme, antwortete
er mit bebender Stimme, daß er sich in den Willen Gottes fügen müsse,
wenn der Kelch an ihm nicht vorbeigehen könne. Er nahm dann den Namen
PiusX. an. Äußerlich macht der neue Papst keinen besonders hervor-
ragenden Eindruck, er ist bescheiden und demütig, liebenswürdig und
gütig; er gilt aber allgemein als ein eifriger Bischof, der seine Diözesen
Mantua und dann Venedig musterhaft verwaltet hat. Unter österreichischer
Herrschaft 1834 in der Nähe von Treviso geboren, bewahrt er noch Anhäng-
lichkeit an Österreich und einige Erinnerungen an die deutsche Sprache.
Mit der italienischen Regierung hat er gute Beziehungen unterhalten. Die
Königin-Witwe Margarete verehrt ihn sehr. Seiner Majestät dem Deutschen
Kaiser ist er einmal in Venedig vorgestellt worden. Den ersten Papstsegen
erteilte er aus den eben angegebenen Gründen von der inneren Loggia.