Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Gespräch 
Bülows mit 
Goluchowski 
626 DER KRATZFUSS 
Appell richtete. „Sie haben jetzt die Wahl, sich den künftigen Kaiser von 
Österreich für immer zum Freund oder zum Feinde zu machen.“ Der Kaiser 
warf mir einen halb verdrießlichen, halb lachenden Blick zu. Der Zug hielt. 
Nachdem Kaiser Wilhelm more solito den alten Kaiser von Österreich um- 
armt und auf beide Wangen geküßt hatte, ging er mit freundlichster Miene 
auf den Thronfolger zu und sagte zu ihm: „Wann kann ich die Ehre haben, 
deiner Frau Gemahlin meinen Kratzfuß zu machen ?“ Der Erzherzog wurde 
rot vor Freude, dann verbeugte er sich und küßte dem Kaiser die Hand. 
Am Nachmittag erfolgte der kaiserliche Besuch bei der Fürstin, späteren 
Herzogin von Hohenberg. Der Erzherzog erwartete den Kaiser auf der 
Schwelle des Hauses und führte ihn zu seiner Gemahlin. Die Entrevue ver- 
lief auf das beste und legte den Grund zu einer aufrichtigen Freundschaft 
zwischen Kaiser und Erzherzog, die bis zur Untat von Serajewo nicht ge- 
trübt werden sollte. 
Der österreichisch-ungarische Minister des Äußern, mein langjähriger 
persönlicher Freund Graf Agenor Goluchowski, sprach sich bei unserem 
Wiedersehen über die innere und äußere Lage der habsburgischen Mon- 
archie mit der Offenheit aus, die unseren Beziehungen entsprach. Solange 
sich die russische Politik in ruhigen Bahnen hielte, müsse und werde 
Österreich seine Politik so einrichten, daß die russische Regierung sie mit- 
machen könne. Er halte an zwei Gesichtspunkten fest: erstens, zu tun, was 
möglich sei, um Konflikte zwischen der Türkei und den Balkanstaaten zu 
verhindern, zweitens, wenn solche Konflikte trotzdem ausbrechen sollten, 
sie zu lokalisieren. Goluchowski fügte hinzu, da letzteres viel schwieriger 
sei als ersteres, käme es also praktisch vor allem darauf an, beruhigend und 
dämpfend auf die Türkei wie auf die Balkanstaaten einzuwirken. Das war 
ein verständiger und von mir geteilter Standpunkt, während leider nach 
meinem Rücktritt Bethmann unter dem Einfluß von Kiderlen und Wan- 
genheim, bis zu einem gewissen Grade auch des Feldmarschalls Colmar von 
der Goltz, und unter voller Zustimmung des Kaisers einen Konflikt zwischen 
Türkei und den Balkanvölkern nicht ungern sah, in der Annahme, daß die 
Türkei den „Hammeldieben von der unteren Donau“, wie Kiderlen sie zu 
nennen pflegte, eine vernichtende Niederlage bereiten würde, eine Voraus- 
setzung, die sich bekanntlich nicht erfüllte. Goluchowski lobte Lambsdorff, 
dessen Vorsicht ihm gefiel. Daß Lambsdorff seit der schlechten Behandlung 
in Hela für Kaiser Wilhelm nicht mehr besonders schwärmte, erschien dem 
österreichisch-ungarischen Minister natürlich nicht gerade als ein Unglück 
für sein Land, wenn er es mir auch nicht sagte. Goluchowski sprach sich 
mit Entschiedenheit dahin aus, daß Österreich-Ungarn weder eine Teilung 
der Balkanhalbinsel zwischen sich und Rußland, wie Fürst Bismarck sie 
oft vorgeschlagen habe, noch die Bildung eines Groß-Serbiens noch eine
	        
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