Der Zar und
der Kaiser
632 DER ZAR UND DIE REVOLUTION
England und Frankreich ginge jenes Reformprogramm noch gar nicht weit
genug. Nachdem wir uns einige Zeit in so verständiger Weise unterhalten
und dabei eine weitgehende Übereinstimmung zwischen unseren Anschau-
ungen konstatiert hatten, gestand mir Lambsdorff, daß er sich recht ange-
griffen und müde fühle. Ob ich es ihm übelnehmen würde, wenn er un petit
somme, einen kleinen Nicker machen sollte? Ich entgegnete ihm, daß es
mich im Gegenteil freue, wenn er seine Kräfte schone und für bedeutsame
Aufgaben stärke. Auch sei ich kein Macbeth und würde seinen Schlaf,
den Balsam kranker Seelen,
den zweiten Gang im Gastmahl der Natur
das nährendste Gericht beim Fest des Lebens
sicherlich nicht morden. So schlief er eine gute Stunde vor meinen Augen
im Lehnstuhl. Es fiel mir auf, wie bleich und abgespannt er im Schlafe
aussah. Lambsdorff ist denn auch kaum drei Jahre später nach langer
Kränklichkeit in San Remo gestorben. Er war nicht der Mann, das russische
Staatsschiff durch die Brandung des japanischen Kriegs zu steuern. Ach,
fünfzehn Jahre später sollte Deutschland in einer noch viel ernsteren und
schwierigeren Lage in dem Reichskanzler Hertling einen ebenso verbrauch-
ten und dabei schwerkranken Mann am Steuerruder des von Sturm und
Wellen hin und her geworfenen Schiffes sehen.
Kaiser Nikolaus sprach sich mir gegenüber ähnlich aus wie sein Minister.
Er erklärte mir mit demselben Nachdruck wie in Peterhof, Hela und Reval,
daß zwischen unseren Staaten keine konträren Interessen bestünden. Eine
Brouille zwischen uns würde nur unseren bittersten Feinden zugute kommen.
„Ce serait faire le jeu de la r&volution.‘“ Die Furcht vor der Revolution
beherrschte den Zaren so sehr, daß er mir als eine der wichtigsten Aufgaben
der konservativen Mächte die Notwendigkeit bezeichnete, die Stellung der
Monarchie in Italien zu erleichtern, sie zu stützen und zu halten. Über die
italienisch-französische Annäherung meinte Kaiser Nikolaus, daß nach den
in Petersburg eingegangenen Nachrichten sie nicht so weit ginge, als die
französische Presse behaupte.
Wie immer vor Begegnungen mit ausländischen Souveränen hatte ich
Kaiser Wilhelm auch für die Entrevue in Wolfsgarten Abwarten, Diskre-
tion und Vorsicht empfohlen. Ich erinnerte ihn an einen trefflichen Spruch
unseres teuren Doktor Martin Luther, den ich ihm sogar aufschrieb:
Es gibt auf Erden kein größere List,
Als wer seiner Zunge Meister ist.
Viel denken, wenig sagen,
Nicht antworten auf alle Fragen.