Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

60 DER MANGEL AN KONTINUITÄT 
entgegenkommen, nur um England zu ärgern, und umgekehrt! Eine ruhige, 
sachliche Politik nach beiden Seiten, ohnesich weder von dem einen noch von 
dem andern vorschieben und ausbeuten zu lassen, aber auch ohne dem einen 
oder dem anderen nachzulaufen, damit kämen wir am weitesten. Ich fühlte, 
daß ich dem Kaiser schon etwas zu schr als Mentor erschien, der seinen Tele- 
mach mit grauer Theorie plagt, statt ihm Früchte vom Baum des Lebens zu 
reichen. „Die Leute bei uns müssen aber Ziele haben‘‘, meinte er, „ohne 
Ziele, ohne daß die Leute sehen, daß wir etwas erreichen, daß wir auch mit- 
sprechen, ist keine Stimmung zu erzielen. Bismarck hat doch auch Kolonien 
erworben.“ 
Ich räumte die Richtigkeit dieses Hinweises ein. Vielleicht ließe 
sich auf diplomatischem Wege dies oder jenes in Polynesien machen. 
Auch in Ostasien liege für deutschen Unternehmungsgeist ein weites, 
überaus fruchtbares Feld. Ich hätte in den Akten, die ich im Semmering 
studiert habe, gesehen, daß von seiten der Marine an allerlei Stützpunkte 
an den zukunftsreichen Gestaden des Stillen Ozeans gedacht werde. Es 
käme darauf an, den richtigen Moment abzuwarten und dann zu erfassen. 
Ostasien auf der einen Seite, Kleinasien auf der anderen wären Länder, 
wo wir uns nicht ganz ausschalten lassen dürften. Wir müßten aber vor- 
sichtig operieren. 
Mein wiederholter Hinweis auf die gebotene Vorsicht namentlich 
auch in Worten wurmte den Kaiser, den meine Mißbilligung seiner 
Kölner Dreizackrede ohnehin verstimmt hatte. Ich bat ihn, mich 
nicht für ängstlich zu halten. Ich hoffte, ihm noch beweisen zu können, 
daß ich dies nicht wäre. Aber wir dürften die Lehren der deutschen Ge- 
schichte nicht vergessen. Das tragische Verhängnis der deutschen Geschichte 
sei ihr Mangel an Kontinuität. Treitschke habe mit Recht von den spär- 
lichen Silberblicken in unserer Geschichte gesprochen, von jener deutschen 
Kaiserherrlichkeit des Mittelalters, die dahinging wie der Traum einer 
Sommernacht. Wir sähen in Deutschland auf keine einfache, ungebrochene 
Entwicklung zurück wie Frankreich, wo Thiers in einer für die Franzosen 
schwarzen Stunde, im Februar 1871, in Bordeaux in der Nationalversamm- 
lung tröstend auf die „admirable unite de l’histoire de la France“ hinge- 
wiesen habe, wie in England, wo noch heute die Nachkommen der Staats- 
männer regierten, die unter der Königin Elisabeth und mit König 
Wilhelm III. die Geschicke des Landes geleitet hatten, und wo die heute 
Regierenden die Geschäfte nach denselben Gesichtspunkten und ungefähr 
mit den gleichen Mitteln führten wie einst ihre Vorfahren. Wir dürften im 
Hinblick auf unsere oft unglückliche, verbogene Geschichte nie die Gefahr 
von Rückschlägen vergessen. Dazu fordere uns auch die preußische Ge- 
schichte auf mit ihren herrlichen Aufstiegen, denen aber bisweilen furcht-
	        
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