76 DER DURCHMARSCH DURCH BELGIEN
gerichtet, eines Friedens in Ehren und mit Würde. Einen solchen Frieden
wünsche und erstrebe ja auch er, der Kaiser. Ein Frieden mit Würde und
in Ehren liege im deutschen Interesse, denn die Zeit gehe für uns. Würden
wir angegriffen und sullten unsere Gegner, Franzosen oder Engländer, in
Belgien einrücken oder dort Truppen landen, so wären wir selbstverständ-
lich berechtigt, auch unsererseits sofort in Belgien einzumarschieren. Aber
ohne vorhergegangene Verletzung der belgischen Neutralität durch unsere
Feinde dürften wir nicht unter Mißachtung der auch von uns unterzeich-
neten und feierlich beschworenen Verträge in Belgien einfallen. Zu einem so
ungeheuren Fehler würde ich nicht die Hand bieten, denn durch ein solches
Verfahren würden wir jene Imponderabilien in die Hand unserer Gegner
bringen, jene unwägbaren Faktoren, die, um mit Bismarck zu reden,
schwerer wögen als materielle Werte. Ich wiederholte nochmals, daß wir im
Kriegsfall nur nicht die ersten sein dürften, welche die belgische, völker-
rechtlich garantierte Neutralität verletzen. Kriege würden im letzten Ende
nicht allein militärisch gewonnen oder verloren, sondern mindestens eben-
sosehr politisch. Napoleon hätte trotz seiner überragenden militärischen
Genialität als Gefangener in St. Helena geendigt, Friedrich der Große,
nicht nur Feldherr, sondern auch Staatsmann, wäre auf dem Thron gestor-
ben. Unser Gespräch zog sich bis nach Mitternacht hin. Der Kaiser wurde
im Laufe der Unterhaltung nervöser und heftiger, als das sonst mit mir
seine Art war. Er ließ halblaut die Äußerung fallen: „Wenn Sie so denken,
werde ich mich im Falle eines Krieges nach einem anderen Reichskanzler
umsehen müssen.“ Ich schied von ihm mit dem Empfinden, daß ich den
Kaiser zwar nicht ganz überzeugt hätte, daß er aber, solange ich im Amte
bliebe, im entscheidenden Moment mir folgen würde, vielleicht weniger
aus Einsicht als aus Vorsicht, in dem ihn damals noch beherrschenden
Gefühl, daß er mit mir am sichersten fahre,
Ich will diese lange Parenthese nicht schließen, ohne hinzuzufügen, daß
sowohl Graf Alfred Schlieffen als dessen Nachfolger Hellmuth Multke
die Frage eines Durchmarsches durch Belgien gelegentlich und gesprächs-
weise mit mir berührt haben. Meine persönlichen Beziehungen zu beiden
waren die besten. Moltke war mein alter und treuer Jugendfreund und ist
es mir bis zu seinem Tode geblieben. Schlieffen hatte das 1. Gardeulanen-
Regiment kommandiert, eines der schönsten Regimenter der Armee, vor
dessen alter Kaserne in Potsdam jetzt das Denkmal des sterbenden Reiters
steht, das kein guter Preuße ohne Wehmut und tiefe Bewegung betrachten
kann. Zwei meiner Brüder, die späteren Generäle Adulf und Karl Ulrich
Bülow, hatten unter Schlieffen bei diesem Regiment gestanden. Ich ent-
sinne mich, daß Schlieffen sich einige Zeit vor meinem Rücktritt, 1904 oder
1905, mit mir über die Chancen eines etwaigen Krieges unterhielt. Er führte