Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

SCHLIEFFEN UND DIE BELGISCHE NEUTRALITÄT 71 
hierbei aus, daß im Falle eines Krieges mit Frankreich und Rußland wir 
trachten müßten, zuerst Frankreich niederzukämpfen. Der sicherste Weg, 
um dies Ziel zu erreichen, führe über Belgien. Ich entgegnete, daß mir dies 
wohlbekannt wäre. Schon als Bonner Husarenleutnant hätte ich unter dem 
Einfluß meines damaligen Kommandeurs, des späteren Feldmarschalls 
Lo&, Clausewitz studiert und dort die Wendung gefunden, daß die Herzgrube 
Frankreichs zwischen Brüssel und Paris liege. Wir dürften aber, fügte ich 
hinzu, aus schwerwiegenden politischen Gründen diesen Weg nur dann 
einschlagen, wenn und sofern die belgische Neutralität vorher von unseren 
Gegnern verletzt worden wäre. Ich erinnerte den genialen Strategen an 
einen mir unvergeßlichen Vorgang aus dem Winter 1887 auf 1888. In jener 
Zeit habe zwischen Deutschland und Frankreich eine starke Spaunung 
bestanden, der Krieg bätte, ähnlich wie schon 1875, 1879 und 1885, in der 
Luft gelegen. Damals seien die englischen Sympathien auf deutscher Seite 
gewesen, und ein großes englisches Blatt, wenn ich nicht irrte, der „Stan- 
dard‘“, habe ungefähr geäußert: Allerdings hätte sich England seinerzeit 
für die belgische Neutralität verbürgt. Das wolle aber nicht bedeuten, daß 
es diese Neutralität unter allen Umständen mit den Waffen für Frankreich 
und gegen Deutschland zu verteidigen brauche. Auf diese verführerische 
Andeutung habe Fürst Bismarck in einem von ihm selbst angegebenen 
Artikel eine Antwort erteilt, deren ich mich genau erinnere. Ich sei in 
jenen kritischen Tagen Geschäftsträger in St. Petersburg gewesen und hätte 
als solcher die in Rede stehende Auslassung meines großen Chefs mit begreif- 
licher Aufmerksamkeit gelesen und durchdacht. 
|In jenem Artikel eines hochoffiziösen Blatts, der Berliner „Post“, hätte 
Fürst Bismarck die nachstehenden Richtlinien aufgestellt, die auch für 
mich maßgebend geblieben wären: 
1. Die deutsche Politik würde nie deshalb einen Krieg beginnen, weil 
sie glaube, daß er ihr sonst aufgedrungen werden könnte, 
2. Vor allem würde Deutschland niemals einen Krieg mit der Verletzung 
eines europäischen Vertrags beginnen. 
3. Wenn man in England annähme, daß die deutsch-französische 
Grenze durch die französischen Sperrforts für jede deutsche Offensive 
unzugänglich geworden sei und daß infolgedessen der deutsche General- 
stab den Durchbruch durch Belgien ins Auge fassen müßte, so meine man 
in Berlin, daß die Kombinationen des deutschen Generalstabs nicht so 
leicht zu erschöpfen wären. Jedenfalls befänden sich alle die im Irrtum, 
die glaubten, die Leitung der Politik sei in Deutschland den Gesichts- 
punkten des Generalstabs unterworfen und nicht umgekehrt. 
4. Ebensowenig wie die Schweizer werde jemals die belgische Neutra- 
lität von Deutschland verletzt werden. 
Bismarck über 
den Kriegsfall
	        
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