DIE MADRIDER KONFERENZ VON 1880 109
wecken, Haß und Rachsucht, Roheit und Grausamkeit, er würde Milliarden
verschlingen, Hekatomben von Menschenleben fordern, Europa für Jahr-
zehnte, vielleicht für Jahrhunderte zugrunde richten. Der Gute, der den
Weltkrieg nicht mehr erleben sollte, hat nur zu richtig gesehen. Er war mit
Recht überzeugt, daß ich ehrlich bemüht wäre, den Frieden zu erhalten.
Noch mehr aus diesem Grunde als aus persönlicher Anhänglichkeit an mich
ließ er mir von Zeit zu Zeit nützliche Winke zukommen. Ich hatte ihm mein
Ehrenwort geben müssen, daß ich ihn nie als Quelle nennen, auch seine
Briefe nacb Kenntnisnahme sofort vernichten würde, denn er wünschte
nicht das Schicksal des Hauptmanns Dreyfus zu teilen.
Dieser Mann, der nur von den reinsten Absichten geleitet war und ein
ideales Ziel verfolgte, schrieb mir fast in demselben Augenblick, als der
Kaiser 1905 seine zweite Mittelmecerreise antrat: Delcasse wäre entschlossen,
es auf den Krieg ankommen zu lassen, überzeugt, daß König Eduard ihn
nicht im Stich lassen und daß es möglich sein würde, zwischen Rußland
und Japan rasch den Frieden wiederherzustellen. König Eduard und die
von ihm beeinflußten englischen Minister und Staatsmänner wollten nicht
sofort in den Krieg mit Deutschland eintreten, würden aber eine völlige
Niederwerfung Frankreichs nicht zulassen und jedenfalls, sobald der Kampf
begonnen hätte, an Deutschland die kategorische Forderung richten,
seinen Flottenbau einzustellen. Ich war von Anfang an gewillt, mich in der
marokkanischen Frage auf dem Boden der Verträge zu halten. Ich wußte
sehr wohl, daß es töricht wäre, sich in Lebensfragen, wo es um Ehre und
Sicherheit des Landes geht, nur auf Verträge zu verlassen. Die einzige
wirkliche und dauernde Sicherheit liegt für ein großes Volk in der eigenen
Kraft, in seiner Macht und vor allem in der nationalen Gesinnung und dem
Patriotismus seiner Bürger. Aber selbst vom Standpunkt der Realpolitik
ist es in hohem Grade wünschenswert, weil nützlich, sich auf den Boden der
Verträge zu stellen, das Vertragsrecht für sich zu haben und damit die
Sympathien der rechtlich und ethisch Denkenden. Es war daher eine
Unglücksstunde für das Deutsche Reich, als der Kanzler Bethmann Holl-
weg in seiner (leider) nicht vergessenen Unterredung mit dem englischen
Botschafter Goschen Verträge als Papierfetzen, als „chiffon de papier“,
als „scrape of paper““ bezeichnete. Wir konnten uns 1905 für unser Vorgehen
auf das Ergebnis der 1880 zu Madrid abgehaltenen Marokko-Konferenz
berufen, auf der die am Handel mit Marokko beteiligten Staaten (Deutsch-
land, Frankreich, England, Österreich-Ungarn, Italien, Spanien, die
Vereinigten Staaten und Holland) übereingekommen waren, daß vom
Scherifischen Kaiserreich den Untertanen irgendeines fremden Staates
Vorzugsrechte nicht gewährt werden dürften. Wollte also Frankreich das
wirtschaftliche oder politische Übergewicht in Marokko an sich reißen, so