Antideutscho
Stimmung in
England
126 ENGLISCHER ÄRGER ÜBER DELCASSES STURZ
punkt festgelegt, daß Änderungen in Marokko nur mit Zustimmung der
Signatarmächte der Madrider Konferenz erfolgen dürften, um uns eventuell
nicht zwischen zwei Stühle zu setzen. Daher konnte Fürst Bülow nicht
weiter auf die französischen Verständigungswünsche eingehen, die niemals
von positiven Vorschlägen begleitet gewesen waren.“ In ihrer Beurteilung
des ganzen Streits um Marokko ging unsere öffentliche Meinung deshalb so
oft in die Irre, weil sie die Unterströmungen in Frankreich und die Leiden-
schaftlichkeit und Intensität des französischen Patriotismus nicht richtig
einschätzte. Schr friedlich, sehr gutmütig, etwas naiv, bei allen seinen
sonstigen großen und herrlichen Eigenschaften politisch wenig begabt, be-
urteilte und beurteilt der Deutsche den Franzosen zu sehr nach sich selbst
und unterschätzt den brennenden französischen Ehrgeiz, die grenzenlose
französische Ritelkeit, die französische Härte und Grausamkeit, aber auch
die französische Spannkraft und Elastizität, den bewunderungswürdigen
Patriotismus aller Franzosen. Deshalb wies ich schon vor dem Weltkrieg*
auf die nie übertroffene Schilderung des französischen Charakters durch
Alexis de Tocqueville hin, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem
meisterhaften Werk „L’ancien regime et la revolution“ schrieb: „Quand
je consid®re cette nation, je la trouve plus extraordinaire qu’aucun des
cvenements de son histoire, faisant toujours plus mal ou mieux qu’on ne
s’y attendait. La plus brillante et la plus dangereuse des nations de l’Europe
etla mieux faite pour y devenir tour a tour un objet d’admiration, de haine,
de pitie, de terreur, mais jamais d’indifference.‘“
Je mehr von englischer Seite Neid und Haß bemüht gewesen waren,
Delcasse zu stützen, die englische Presse laut und dreist, König Eduard
und die unter seinem Einfluß stehenden Minister des Tory-Kabinetts mehr
im stillen, um so größer war an der Themse der Ärger über den Sturz dieses
Staatsmannes, der durch den Lauf der Ereignisse wie in seinem tiefen und
hitzigen Haß gegen Deutschland die Revanche-Idee verkörperte. Am
25. Juli 1905 schrieb mir unser Botschafter Paul Metternich aus London:
„Ihre Königlichen Hoheiten der Kronprinz und die Kronprinzessin von
Griechenland und die Prinzessin Friedrich Karl von Hessen, welche mit
ihren Kindern in Seaford, einem kleinen englischen Badeort, weilen und
seit etwa acht Tagen im Buckingham Palace zum Besuch sind, hatten sich
heute zum Lunch bei mir angesagt. Die Kronprinzessin sagte mir, sie sei
ganz erschrocken und traurig über die antideutsche Stimmung, die hier bei
Hofe herrsche. Sie sei ahnungslos in dieses erbitterte Milieu hineingeraten.
Es wäre dies sehr traurig, da England und Deutschland eigentlich dazu
berufen wären, zusammenzugehen. König Eduard wünsche, trotz seiner
* Fürst von Bülow, Deutsche Politik, Volksausgabe, S. 81 f.