134 WILHELM II. DRÄNGT DEN ZAREN
persönlich verletzt worden wäre ? Vielleicht hätte ein vom Deutschen Kaiser
mit immer gleichmäßiger Freundlichkeit behandelter Lambsdorff schließ-
lich gefunden, daß die russisch-französische Allianz und ein vorsichtig
redigiertes russisch-deutsches Defensiv-Abkommen nebeneinander be-
stehen könnten. Es lag bier ähnlich wie bei den deutsch-englischen Allianz-
möglichkeiten um die Jahrhundertwende, wo auch der halsstarrige Wider-
stand des englischen Premierministers Salisbury zu einem nicht geringen
Teil auf dessen persönliche Ranküne gegen den Deutschen Kaiser zurück-
zuführen war. Erst nachdem ich in einer Unterredung mit dem Grafen
Osten-Sacken mit Nachdruck erklärt hatte, ich hätte keine Lust, den
„dindon de la farce“ zu spielen, und würde deutsche Kohlenlieferungen an
Rußland nur zulassen, wenn uns Rußland bindende Zusicherungen für den
Fall gäbe, daß solche Lieferungen uns in einen Konflikt mit Japan oder
England verwickeln sollten, bequemte sich das St. Petersburger Kabinett
zu einer schriftlichen Zusage.
Trotz der durch mich an ihn gelangten Warnung des Großfürsten
Wladimir, dem schwachen, aber, wie die meisten schwachen Menschen,
gleichzeitig empfindlichen Zaren nicht zuviel Ratschläge zu erteilen,
versteifte sich Wilhelm II. auf seine Mentorrolle. Schon im Februar 1905
hatte der Kaiser einem seiner Vertrauten, dem Professor Theodor Schie-
mann, gesagt, er arbeite an einem „prächtigen“ Briefe, in welchem er dem
Zaren „gute Ratschläge“ geben wolle. Dieser müsse von Moskau aus eine
Proklamation erlassen, ständische Vertretungen einführen und die an-
archistische Bewegung mit Gewalt niederschlagen. Nach und nach ging
Kaiser Wilhelm noch mehr aus sich heraus. Wie aus den von den Bolsche-
wisten veröffentlichten Briefen des Kaisers an den Zaren weiter erhellt,
rieterihm, sich selbst an die Spitze seiner Schwarze-Meer-Flotte zu stellen,
aus eigener Kraft deren Durchfahrt durch die Meerengen zu erzwingen und
mit seinen stolzen Schiffen in den Kampf zu ziehen. Er möge, um sein Volk
mit fortzureißen, Vertreter aller Provinzen nach Moskau in den Kreml
berufen, um sie in einer flfammenden Ansprache für den Krieg zu begeistern
und ihre Unterstützung für die vaterländische Sache und das ötlentliche
Wohl zu gewinnen. Derselbe Monarch, der anderen gegenüber so freigebig
mit kühnen und hochherzigen Ratschlägen war, ließ selbst, ein Dezennium
später, in einem noch viel schwereren Kriege die Zügel der politischen
Leitung am Boden schleifen. Er spielte, nachdem er so oft seine Stellung
als oberster Kriegsherr als den Rocher de bronze seines Thrones bezeichnet
hatte, im Weltkrieg die Rolle des tatenlosen Zuschauers und verhielt sich
in allem passiver als die wegen ihrer bescheidenen Zurückhaltung von ihm
oft getadelten und verspotteten Monarchen von Belgien und Italien,
Rumänien und Griechenland, ja als die Präsidenten der Französischen