Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DIE ENGLÄNDER WERDEN GEREIZT 141 
für den Fall eines russischen Angriffs auf Indien zu erlangen. Nach der An- 
sicht der Engländer ist Indien außer Kanada die einzige verwundbare Stelle 
des britischen Weltreichs. Die Besorgnis, daß im Falle eines englischen 
Angriffs auf Deutschland Indien durch die Russen bedroht wäre, würde die 
Engländer uns gegenüber vorsichtiger machen. Nachdem durch den Zusatz 
‚en Europe‘ diese Gefahr ausgeschaltet erscheint, ist zu befürchten, daß 
ein solcher Vertrag die Engländer nur reizen wird. A strong bullet stops a 
man; a small bullet excites a man. Der Vertrag in seiner ursprünglichen 
Form war a strong bullet; mit dem Zusatz ‚en Europe‘ ist der Vertrag, 
wie ich fürchte und glaube, a small bullet. Eure Majestät meinen in Aller- 
höchst Ihren Marginalien zu meinem ehrfurchtsvollen Telegramm vom 
28.v.M., daß die Russen auch ohne Vertrag mit uns Indien angreifen 
könnten, wir könnten ihnen im Falle eines Krieges mit England zu einem 
Vorgehen gegen Indien raten. Hier gilt aber das Wort: ‚Was man schwarz 
auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.‘ Wenn die Russen 
von einem Vorgehen auf Indien nicht ausdrücklich befreit worden wären, 
würden sie im Falle eines Krieges mit England an der indischen Grenze 
mindestens militärische Demonstrationen vorgenommen haben, welche 
einen Teil der englischen Streitkräfte von Europa weg- und nach Asien ab- 
gezogen hätten. Freiwillig werden sie das schwerlich tun. Es liegt jetzt 
sogar die Möglichkeit vor, daß Rußland früher oder später mit England 
ein Abkommen trifft, das einen Krieg an der indischen Grenze ausschließt, 
die Wucht des Krieges also auf Europa beschränkt und eine Situation her- 
vorruft, in der uns Rußland gegenüber England geradezu gar keine Heeres- 
folge leistet. Die Stimmung des Zaren kann sich ändern. E mobile. Die 
hohen Damen am russischen Hofe neigen, soweit sie Einfluß haben, mehr 
zu England als zu Deutschland. Ob im Falle eines Krieges mit England ein 
Rat Ew. Majestät den Zaren bewegen würde, freiwillig gegen Indien vor- 
zugehen, ist meines untertänigsten Erachtens sehr zweifelhaft. Seit zehn 
Jahren haben wir oft erlebt, daß eine persönliche Einwirkung Ew. Majestät 
auf den Zaren möglich war, schriftliche Vorstellungen aber wenig Erfolg 
hatten. In einem derartigen Falle würde selbst ein persönlicher Druck weit 
schwieriger sein, weil der Zar nicht wie diesmal in Björkö in derschwächeren 
und hilfsbedürftigeren, sondern bei einem auf Europa beschränkten Kon- 
flikt zwischen England, Deutschland und Rußland in der günstigeren und 
stärkeren Lage wäre als wir. Die Hauptsache aber bleibt immer, daß durch 
die Beschränkung ‚en Europe‘ die englische Kriegslust uns gegenüber, 
welche die Gefahr des Augenblicks und nach menschlicher Berechnung 
der nächsten Zukunft bildet, nicht abgeschwächt, sondern erhöht wird. 
Das Mißtrauen der Engländer gegen uns ist durch das Gerücht, daß 
wir die Neutralisierung der Ostsee anstrebten, neu genährt worden. Die
	        
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