Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

144 DIE ZERSTREUTHEIT DES ZAREN 
begleiten würden und daß bis zu meinem letzten Atemzug mein ganzes Herz 
für das Glück und den Ruhm Ew. Majestät schlagen wird. gez. Bülow.“ 
Ich hatte es in diesem Immediatbericht absichtlich vermieden, der 
Ahnung Ausdruck zu geben, die sofort in mir aufgestiegen war, als ich das 
Telegramm des Kaisers über den in Björkö von ihm erzielten Triumph 
erhalten hatte, namlich dem Argwohn, daß es dem Grafen Lambsdorff nach 
dem Wiedereintreflen seines Souveräns in Petersburg gelingen würde, den 
Zaren zur nachträglichen Desavouierung des von Kaiser Wilhelm im Sturm 
errungenen Vertrages und zur Zurückziehung seiner Unterschrift zu be- 
wegen. Der Zar hatte sich dem Kaiser gegenüber schwach, unselbständig 
und einfältig gezeigt. Gegenüber seinem Minister zeigte er sich ebenso 
schwach, ebenfalls unselbständig, aber außerdem noch perfide. Als Kaiser 
Nikolaus den Grafen Lambsdorff wiedersah, der ihm durch seine große 
Höflichkeit, sein unterwürfiges Wesen, vor allem durch seine stille Art, die 
angenehm abstach von den gröberen Manieren, dem lauten Organ und dem 
herrischen Auftreten des Finanzministers Witte, besonders sympathisch 
war, fand er den Minister des Äußern sehr verstimmt. Wladimir Nikolaje- 
witsch zeigte sich tief verletzt, daß er zu einem so wichtigen Staatsakt wie 
dem „traite ou soi-disant traite de Björkö“ nicht zugezogen worden war. Er 
deutete an, daß der selbstherrschende Zar sich vom Deutschen Kaiser habe 
überrennen lassen. Dieser hätte die allzu große Courtoisie, vielleicht auch 
eine momentane „distraction“ des Zaren benutzt, um ihn hinter das Licht 
zu führen. So wurde mir später von Witte und Iswolskij die Szene zwischen 
dem aus Björkö zurückkehrenden Zaren und seinem Minister des Äußern 
geschildert. Jedenfalls wurde es Lambsdorff nicht schwer, seinen Monarchen 
davon zu überzeugen, daß der von ihm in Björkö unterzeichnete Vertrag 
nicht in Einklang mit dem russisch-französischen Bündnis zu bringen wäre. 
Dem deutschen Botschafter sagte Graf Lambsdorff, es sei zu bedauern, daß 
er, der zuständige Minister, in Björkö nicht zugezogen worden wäre. Er 
würde vor übertriebenen Hoffnungen gewarnt und verhindert haben, daß 
die Monarchen einen Pakt unterzeichneten, dessen Ausführung unmöglich 
sei. Es ist nur zu wahrscheinlich, daß sich Lambsdorff in diesem Sinne auch 
gegenüber dem französischen, vielleicht auch dem englischen Botschafter 
ausgesprochen hat. Jedenfalls wurde der St. Petersburger Korrespondent 
des „Daily Telegraph‘“, Mr. Dillon, von russischer Seite in die Lage ver- 
setzt, die Version des Grafen Lambsdorff über die Björköer Zusammenkunft 
der englischen Regierung zu übermitteln. 
Der Besuch des Kaisers Wilhelm Il. in Kopenhagen war völlig erfolglos 
geblieben. Der damals schon siebenundachtzigjährige König Christian IX. 
war durch ein langes, wechselvolles Leben, das ihm schwere Prüfungen, 
aber dafür Erfahrung gebracht hatte, viel zu gewitzigt, um nicht der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.