Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Brief Bülows 
an den Kaiser 
238 NOCHMALS DIE SEKUNDANTENDEPESCHE 
das Alter bemerkbar. Ich habe zwar noch nicht wie Nestor drei Menschen- 
alter geschen, aber mit siebenundfünfzig Jahren beinahe zwei. Übrigens 
glaube ich, daß die Gewohnheit des Diktierens, die ich vor einem Viertel- 
jahrhundert an der Pariser Botschaft annahm, auch ihr Gutes hat. Ich 
glaube fast, daß ich die Leichtigkeit, mit der ich aus dem Stegreif, unvor- 
bereitet öffentlich spreche, zum großen Teil der Gewohnheit des Diktierens 
verdanke. Das Diktieren zwingt dazu, die Gedanken rasch zu ordnen, 
schnell eine Disposition zu entwerfen, verführt allerdings zu allzu reich- 
lichem Redefluß. Nun aber: Claudite jam rivos, pueri, sat prata biberunt! 
Mit diesem Wort des alten Palaemon in den Eklogen des Virgi) schloß 
während meines ersten römischen Winters 1874/75 ein glänzender Redner, 
Marco Minghetti, eine Rede, der ich als junger Autach& bewundernd 
lauschte. Ich hatte merkwürdigerweise, bevor ich selbst im Reichstag reden 
mußte, außer Minghetti nur vier parlamentarische Redner gehört. Als 
Primaner hörte ich Bismarck, der am 1. April 1867 die Bennigsensche 
Interpellation über Luxemburg beantwortete. Ich stand im Hintergrund der 
diplomatischen Loge, in die unser Vater, damals mecklenburgischer Ge- 
sandter in Berlin, mich eingeschmuggelt hatte. 1875 hörte ich, wie eben er- 
wähnt, Mingbetti, den Stiefvater von Marie, den sie so sehr liebte und 
verehrte. 1879 hörte ich in Paris, oder vielmehr in Versailles, wo damals 
noch das französische Parlament tagte, Gambetta, Leon Say und Dufaure. 
Als ich 1897 im Reichstag zum erstenmal sprach, stand mir Leon Say vor 
Augen mit seiner ruhigen, sicheren, klaren Art zu reden. Vale ac me ama. 
Bhd.“ 
Wenn ich heute diesen im Jahre 1906 an meinen Bruder gerichteten 
Brief, in dem ich zusammenfaßte, was ich in vielen Unterredungen mit 
deutschen Politikern und Publizisten, was ich zum Teil auch im Reichstag 
ausgeführt habe, wieder vor mir sehe, so berührt mich die Äußerung 
Roosevelts, der damals noch als deutschfreundlich gelten konnte, wahrhaft 
tragisch. Deutschland hat acht Jahre später, als es zur Verteidigung seiner 
Existenz zu den Waffen griff, die öffentliche Meinung der gesamten Welt 
von vornherein gegen sich gehabt. Das deutsche Volk ist, um mit Roosevelt 
zu sprechen, weit über jede Berechtigung hinaus für den Weltkrieg und 
seine Folgen verantwortlich gemacht worden. Und es wird mit einer in der 
Weltgeschichte noch nie gesehenen Brutalität bis aufs Blut für Entschädi- 
gungen ausgebeutet, zu denen es sich mit abgepreßter Unterschrift ver- 
pflichten mußte. 
Die mindestens unvorsichtige Sekundantendepesche an Goluchowski 
und manches, was ich in der gleichen Richtung aus Berlin hörte, ließen es 
mir nützlich erscheinen, dem Kaiser, der seit unserer durch meine Er- 
krankung herbeigeführten räumlichen Trennung seinen selbstherrlichen
	        
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