Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Das 
Wahlrasultat 
278 WAHLSIEG UND WAHLNACHT 
„Über Eurer Durchlaucht Heimat weht wieder die nationale, die schwarz- 
weiß-rote Flagge“, hieß es in dem Telegranım. Es folgte eine ganze Reihe 
günstiger Nachrichten. Namentlich aus dem Königreich Sachsen, das bisher 
fast nur Sozialisten in den Reichstag entsandt hatte und deshalb das rote 
Königreich genannt wurde, kam die gute Kunde, daß die bürgerlichen 
Parteien an 15 Wahlsitze erobert hatten. 
Als ich mich gegen Mitternacht zu Bett legte, stand die Partie günstig. 
Einige Stunden später weckte mich meine Frau. Sie glaubte vor dem Haus 
singen zu hören. Ich erwiderte ihr lachend, sie hätte wohl geträumt, und 
schlief weiter. Aber bald darauf klopfte es stark an die Tür. Ein Beamter 
der Reichskanzlei meldete, daß eine große Menschenmenge sich vor dem 
Reichskanzlerpalais angesammelt habe und mich zu sehen wünsche. Ich 
kleidete mich eo rasch wie möglich an und hielt an die Tausende, die im 
Hofe des Reichskanzlerhauses und in der Wilhelmstraße mich begrüßen 
wollten, ganz unter dem Eindruck des Augenblicks die nachstehende An- 
sprache: „Meine Herren! Ich danke Ihnen [ür Ihre freundliche Begrüßung, 
vor allem aber für die nationale Gesiunung, die Sie hierhergeführt hat. 
Mein großer Amtsvorgänger, vor dem wir alle in Ehrfurcht uns neigen, hat 
vor bald vierzig Jahren gesagt: ‚Setzen wir das deutsche Volk in den 
Sattel, reiten wird es schon können.‘ Ich hoffe und glaube, das deutsche 
Volk hat heute gezeigt, daß es noch reiten kann. Und wenn bei den Stich- 
wahlen jeder seine Schuldigkeit tut, so wird die ganze Welt erkennen, daß 
das deutsche Volk fest im Sattel sitzt und alles niederreitet, was sich seiner 
Wohlfahrt, seiner Größe in den Weg stellt. Und nun meine Herren, bitte ich 
Sie, mit mir einzustimmen in den Ruf: Die Nation, das deutsche Volk 
hoch!“ Meine Worte wurden von fortwährendem Beifall unterbrochen, 
mit Jubel aufgenommen. 
Eine genaue Prüfung der Wahlresultate am nächsten Morgen ergab die 
Gewißheit, daß, wenn die am 5. Februar angesetzten Stichwahlen leidlich 
gingen, die Regierung im Reichstag über eine ausreichende Mehrheit aus 
Konservativen, Nationalliberalen und Freisinnigen verfügte. Die Wucht des 
nationalen Zorns hatte die Sozialdemokratie so vernichtend getroffen, daß 
sie 36 Sitze verlor und von 79 Mandaten auf 43 herabsank. Ohne das von 
den meisten Bischöfen, übrigens auch von Hertling, Praschma und Balle- 
strem mißbilligte Wuhlbündnis des Zentrums mit den Sozialdemokraten 
hätten die letzteren mindestens noch ein weiteres Dutzend Sitze eingebüßt 
und wären auf 30 Mandate zurückgedrängt worden. Mächtig bewegt, wie 
nie seit den Tagen des Fürsten Bismarck, war die Seele unseres Volkes. 
Großstädte, die seit langem als sicherer Besitz der Sozialdemokratie galten, 
wie Leipzig, Dresden, Magdeburg, Halle, Elberfeld, Frankfurt a. M., 
Darmstadt, Breslau, Königsberg, Bremen, Braunschweig, Stettin, waren der
	        
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