Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DER NEUE REICHSTAG 281 
bezweifelt, wie mir dies im Wahlkampf von der Zentrumspresse imputiert 
wurde. In Erwiderung einer amerikanischen Anfrage, ob die Meldung 
richtig sei, daß der Sieg der nationalen Parteien bei den Wahlen die deutsche 
Regierung ermutigen werde, eine aggressive auswärtige Politik einzuleiten, 
hatte das Pressebüro des Auswärtigen Amts der „Publishers’ Press Asso- 
ciation“ in New York die nachstehende Antwort zukommen lassen: „Die 
Annahme, als bedeute der Ausfall der neuen Reichstagswahlen eine Wen- 
dung zu aggressiver Weltpolitik, ist gänzlich irrig. Der Kaiser ist nicht 
kriegerisch gesinnt, dem Fürsten Bülow kann man ebensowenig abenteuer- 
liche Tendenzen nachsagen. Man irrt sich sehr, wenn man die nationale 
Stimmung, aus der heraus der neue Reichstag gewählt ist, nicht fürnnational, 
sondern für nationalistisch und chauvinistisch hält. Er ist gewählt gegen die 
antinationale Arroganz einer widernatürlichen Parteikonstellation. Diese 
Arroganz hat das nationale Empfinden des Volks empört. Dieselbe Mehrheit, 
welche Südwestafrika behaupten will, würde sich gegen phantastische 
Pläne aussprechen.“ Dieses Telegramm hatte mir vor seinem Abgang nicht 
vorgelegen, andernfalls würde ich die Wendung von der antinationalen 
Arroganz wohl gestrichen haben. Aber auch bei der dem Telegramm an die 
„Publishers’ Press Association‘ von einem jüngeren Beamten unseres 
Preßbüros gegebenen Form gehörte viel Empfindlichkeit und insbesondere 
viel böser Wille dazu, aus dieser überdies augenscheinlich mehr vom Stand- 
punkt der auswärtigen als der inneren Politik inspirierten Antwort eine 
Beleidigung der Zentrumsfraktion herauszulesen. Bei der politischen Ge- 
samtsituation konnte ich mir aber trotz aller Objektivität, mit der ich dem 
Zentrum nach wie vor gegenüberstand, nicht verhehlen, daß die Erhebung 
des Zentrumsführers auf den Präsidentenstuhl unmittelbar nach dem Wahl- 
kampf von der großen Mehrheit des deutschen Volkes nicht verstanden, 
sondern als eine Schädigung des nationalen Aufschwungs betrachtet 
werden würde. Dieser Reif in der Frühlingsnacht hätte viele Blüten zer- 
stört. 
Ich gab deshalb meine Zustimmung zu der Wahl eines neuen Reichstags- 
präsidiums. Erster Präsident wurde Graf Udo Stolberg, ein Konservativer 
ohne Vorurteile und mit weitem Horizont, verbindlich gegen alle Parteien, 
in guten Beziehungen zum Zentrum, höflich auch mit der Sozialdemokratie. 
Erster Vizepräsident wurde der Freisinnige Kämpf, ein naher Freund von 
Eugen Richter, Berliner Stadtrat und Stadtältester, in seiner sachlichen 
Nüchternheit und vollkommenen Ehrenhaftigkeit ein echter Sohn seiner 
Vaterstadt Neu-Ruppin. Zweiter Vizepräsident wurde leider das schwarze 
Schaf der Nationalliberalen, wie ihr Führer Ernst Bassermann ihn zu nennen 
pflegte, der Dr. Paasche, der sich zu Bassermann ungefähr verhielt wie 
Erzberger zu Spahn. Eine innige Seelenverwandtschaft hat auch viele
	        
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