DIE PARTEI DER EHRLICHEN LEUTE 299
Zum deutschen Vertreter im Haag hatte ich unseren Botschafter in
Konstantinopel, Herrn von Marschall, ausersehen, der ein guter juristischer
Kopf war und sich im diplomatischen Dienst auch nach und nach die
wünschenswerte Verbindung von Würde und Kulanz angeeignet hatte. Es
gelang ihm bald, im Haag eine führende Rolle zu spielen. Der englische
Friedensapostel Stead, der fünf Jahre später beim Untergang des Dampfers
„Titanic“ einen tragischen Tod fand, gibt in seinem Buch über die Haager
Konferenz zu, daß der deutsche Vertreter nicht nur der scharfsinnigste
Redner der Versammlung gewesen wäre, sondern auch durch seine Sach-
kenntnis die positiven Arbeiten mehr als irgendein anderer gefördert hätte.
Mit wahrem Ingrimm fügte der Engländer Stead hinzu: „Statt daß die
englischen Vertreter in der Friedenskonferenz die Führung hätten über-
nehmen sollen, blieben sie im Rückstand und ließen Deutschland den ersten
Platz. Eine kläglichere und schändlichere Niederlage habe ich selten geseben.“
Die Einsetzung eines ständigen internationalen Schiedsgerichts-
hofes war das Verdienst des deutschen Delegierten, der auch später für die
Minderheit das Wort führte, die das obligatorische Schiedsgericht ablebnte.
Es war bezeichnend für den Unterschied zwischen Redlichkeit und Unred-
lichkeit, daß zu denjenigen Staaten, die mit Deutschland und Österreich-
Ungarn das obligatorische Schiedsgericht ablehnten, Belgien, die Schweiz
und die Türkei gehörten. An der ehrlichen Friedensliebe dieser Länder war
kein Zweifel möglich, während sich als Verfechter des obligatorischen
Schiedsgerichtshufs gerade die Staaten der Entente gerierten, deren Pazifis-
mus doch nur sehr naive Politiker für bare Münze nehmen konnten. Als ich
unsere Haltung auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz im Reichstag
erläuterte*, fand ich die Zustimmung aller Parteien und zu meiner Genug-
tuung auch den Beifall fast der ganzen englischen Presse. Die liberalen
englischen Blätter hoben die Würde und Ehrlichkeit der deutschen Reichs-
tagsdebatte wie meiner Erklärungen hervor, und auch die unionistischen
Journale stellten fest, daß ich mit meiner freimütigen, den deutschen Stand-
punkt darlegenden Rede einen überraschenden Erfolg in England erzielt
und die „Partei der ehrlichen Leute‘ gewonnen hätte.
Daß meine Haltung und Sprache gegenüber der Haager Friedens-Kon-
ferenz in England einen guten Eindruck gemacht und daß insbesondere die
ruhige Freundlichkeit, mit der ich mich am 30. April* über die deutsch-
englischen Beziehungen geäußert hatte, die Anerkennung selbst der „Times“
fand, erfüllte den Kaiser mit lebhafter und aufrichtiger Freude. Er über-
sandte mir sehr beglückt den nachstehenden Brief eines hervorragenden
englischen Seemannes, des Admirals Montagu, der ihm über meine Rede
* Fürst von Bülow, Deutsche Politik, Volksausgabe, Verlag Reimar Hobbing, Berlin.