320 DAS SYSTEM TIRPITZ
erforderlichen Mittel durch den Reichstag einiges beigetragen hätte. Schon
deshalb hätte ich das Recht, zu Maß und Vorsicht zu mahnen. „Est modus
in rebus, sunt certi denique fines“, zitierte ich aus den Satiren des Horaz.
Ich wäre nach wie vor der Überzeugung, daß wir wie das Recht so die
Pflicht hätten, uns eine für unsere Verteidigung ausreichende Flotte zu
bauen. Ich könne aber nicht einsehen, warum wir nicht trachten sollten,
auf der Basis eines langsameren Tempos im Ausbau der Flotte mit England
zu einer Verständigung zu gelangen. Es gibt kaum eine andere Frage, über
die ich so häufige und bisweilen so scharfe Diskussionen mit Seiner Majestät
gehabt habe. Mit Tirpitz ging ich mehr auf Einzelheiten ein. Unter voller
Anerkennung seines ÖOrganisationstalents, bei aller Achtung für seine
geniale Persönlichkeit und seine glühende Vaterlandsliebe frug ich, warum
wir unsere Flotte immer sprungbereit England gegenüber in der Nordsee
hielten, statt unsere Kriegsflagge auch einmal in anderen Meeren, im Mittel-
meer oder im Stillen Ozean zu zeigen. Ich frug auch, warum wir uns ganz
auf den Bau der Großkampfschiffe konzentrierten, statt mehr Gewicht auf
die Küstenbefestigungen und das Torpedowesen zu legen und namentlich
und vor allem auf die Entwicklung und Förderung der U-Boot-Waffe.
Tirpitz antwortete mir, der Kaiser besorge, daß, wenn wir seine geliebten
Großkampfschiffe aus den heimatlichen Gewässern herausschickten, die
Engländer sie „„kopenhagenen“ würden, um eine Wendung von Lord Fisher
zu gebrauchen. Die Großkampfschiffe erklärte Tirpitz für den wenn nicht
allein so doch ganz überwiegend entscheidenden Faktor in einem even-
tuellen Krieg. Der ganze Gedankengang des Erbauers der deutschen Flotte
ging offenbar dahin, daß wir, wenn es zum Kriege käme, sofort mit unserer
Flotte auslaufen und die Engländer zu einer großen Schlacht auf offener
See zwingen müßten. In einer solchen könnten wir vielleicht siegen.
Jedenfalls hätten wir gute Chancen und würden zweifellos die englische
Flotte so schwächen, daß dann der Augenblick gekommen wäre, mit Unter-
seebooten das nicht mehr die Meere beherrschende Albion zum Frieden zu
zwingen. Ich maße mir kein Urteil über die Richtigkeit dieses Gedanken-
gangs an. Aber ich bin der Meinung, daß Wilhelm II. nach dem Ausbruch
des Weltkrieges wohl daran getan hätte, dem Erbauer und Schöpfer der
Flotte, Tirpitz, auch ihre Verwendung und Leitung zu überlassen. Und ich
bin weiter der Überzeugung, daß in diesem Falle wir nicht das jammervolle
Ende erlebt hätten, das unserer tapferen Flotte in Scapa Flow beschieden
war. Diejenigen, die Tirpitz bei Beginn des Weltkrieges die Disposition
über die Flotte aus der Hand nahmen und ihn selbst kaltstellten, der Chef
des Marinekabinetts Admiral Müller, der Admiral Holtzendorff, vor allem
Bethmann Hollweg und Jagow, die England nicht „reizen“ wollten, tragen
die Schuld, wenn so langjährige Arbeiten und Mühen, so viel Geist und